Kapitel 1

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Meine Mutter sagte mir damals ständig, dass sie stolz auf mich sei.

Wäre sie an diesem Tag stolz auf mich gewesen, wenn sie gewusst hätte, dass ich mich selber nicht wieder erkannte?
Wäre sie stolz auf mich gewesen, wenn sie gewusst hätte, dass ich weinend auf dem Boden meines Zimmers saß und die Welt verfluchte?
Wäre sie stolz gewesen, wenn sie gesehen hätte, dass ich mich im Spiegel nicht mehr ansehen mochte?

Wahrscheinlich nicht.

Mein Vater brachte mir damals das Schnitzen bei. Er brachte mir das Radfahren bei, und er brachte mir bei, wie man zeichnet. Nicht dieses typische kritzeln, nein, richtiges zeichnen. Portraits, Landschaften, Häuser...

Wahrscheinlich wäre er ebenso wenig stolz, wenn er sehen würde, was ich alles tat. Dass ich nicht mehr schnitzte, da ich die Lust daran verlor, und dass ich nicht mehr Rad fuhr, da ich mein Rad längst nicht mehr besaß. Er wäre traurig. Und seine Trauer und Tränen würden die Bilder ertränken, die ich noch malte. Die düsteren Bilder mit noch düstereren Gestalten darauf.

Und bin ich überhaupt stolz auf mich gewesen? Auf das Mädchen, das ich wurde, und das sich in ihre Depression verrannte, verirrte, wie in einem Labyrinth? Das Mädchen, das sich Abends in den Schlaf weinte und morgens wieder mit geröteten Augen aufwachte, da es ihr so vor kam, als würde sie selbst in ihren Träumen weinen?

Wie könnte ich nur stolz auf so jemanden gewesen sein. Ich war es nie. Ich bin es niemals gewesen.

Seit dem Tod meiner Eltern lag mein gesamtes Leben bloß noch in Scherben. Und es war nun Jahre her. Ich war 10 als es passierte.
Und mein 10 - jähriges Ich wusste nichts von der Zukunft.

Seufzend nahm ich meine Jacke von der Gaderobe des Jugendheims. Ich lebte nie gerne dort. Wer tat das schon? Wir waren alle doch nur Verkörperungen des Wunsches, eine gute und liebevolle Familie zu besitzen. Niemand dort lebte, da er es gern tat, wir alle lebten nur, da wir es mussten.

Da wir keine Wahl hatten.
Man ließ uns nicht entscheiden.
Wir waren minderjährig.

Obwohl ich bald mein 18. Lebensjahr erreicht hatte, wenn du 17 bist, dann schränkt die Welt dich noch so lange ein, bis dein Geburtstag dich erlöst.

"Hey, Sam.", hörte ich Clarissa nach mir rufen, drehte mich zu ihr um. Mein Körper fühlte sich so schwer an. Als würde jemand auf meinen Schultern sitzen.

"Hi", gab ich ihr als Antwort. Ich gab nahezu immer bloß noch ein simples 'Hi' als eine Antwort, als einen Gruß. Mehr wollte ich einfach nicht sagen, und mehr hatte ich auch nicht zu sagen.

"Wo willst du hin?" Ich würde lügen, wenn ich behaupte, dass es keinen Tag gab, an dem ich ihre Stimme nicht zur Hölle schickte, oder ich sie loswerden wollte. Sie ging mir einfach tierisch auf die Nerven.

"Ich...uhm-", und ich wollte ihr niemals die Wahrheit über meine regelmäßige Abwesenheit im Heim erzählen, "muss mal raus...du weißt schon...hier ist alles so...na ja-", ich wusste nie, wie ich es bezeichnen sollte, bis mir das perfekte Wort hinaus rutschte, "bedrückend".

Bedrückend. Das war es. Mir kam es so vor, als würden die Wände Tag zu Tag enger an einander rücken und uns alle irgendwann erquetschen. Die Frauen in der Küche sahen furchtbar aus, so traurig und erschöpft, und meine Situation, mein Leben, fühlte sich mit jedem eintretenden Morgen immer schlimmer an. Immer härter, um dagegen ankämpfen zu wollen.

Ich kann keine Depression beschreiben. Ich kann es bloß versuchen, doch werde niemals das Gefühl vermitteln können, welches durch meine Venen floss. Ich konnte nicht essen, nicht trinken, wollte schlafen, ohne wirklich schlafen zu wollen und fühlte mich dauerhaft so, als wäre ich niemals genug. Als wären meine Atemzüge totale Verschwendung und meine Anwesenheit eine Belastung für die gesamte Welt. Als wäre alles besser gewesen, wenn ich nicht dort gewesen wäre. Wenn ich tot oder weg wäre. Ich dachte so oft an den Tod, dass ich mich fürchtete es zu tun. Mir das Leben zu nehmen. Ich hatte Angst, dass es nicht klappen würde. Dass es mir bloß noch schlechter gehen würde. Ich die letzten Menschen, die noch gut von mir dachten, enttäuschen würde.

Wer wollte schon etwas mit einem Mädchen zutun haben, das angeblich ihre ganze Familie ermordet haben sollte? Richtig, niemand.

"Ich versteh schon.", sagte sie und rieb sich ihre braunen Augen, während sie zu Boden sah. "Wir alle müssen mal hier raus." Nur ich sehr oft.

"Ja", antwortete ich ihr und schwieg. Ich fand es unhöflich einfach weg zu gehen, doch ich fand es noch unhöflicher ihr einfach nicht zu antworten. "Uhm...ich muss dann...-"

"Oh, ja ja, klar, tut mir leid, ich wollte dich nicht aufhalten, oder sowas."

"Kein Problem" Ein Lächeln entfloh meinen Lippen. Es waren nie ernst gemeinte Lächeln. Es waren immer die aufgesetzten, damit niemand sich Sorgen machte. Damit niemand Fragen stellte.

Ich atmete ein und aus, als der kühle Sommerwind mir ins Gesicht blies. Es fühlte sich gut an. Besser als das stickige Zimmer im Dachgeschoss. Alles fühlte sich besser an, sah besser aus, als dieses Zimmer im Dachgeschoss. 7 Jahre, fast 8, und ich hatte es weder um die Welt, noch aus dieser Stadt geschafft. Immer wieder lief ich dieselben Straßen rauf und runter, atmete dieselbe Luft ein, kaufte denselben Kaffee in diesem einen Café, das den Namen 'Jersey's' trug, und stand vor demselben großen Haus, auf dessen Türrahmen dick geschrieben 'Vernicke - Praxis für Psychotherapie und Krankengymnastik' stand, was für mich keinerlei Zusammenhang hatte.

Und wieder lief ich dieselben Treppen hoch und öffnete dieselbe Tür, die mich direkt zu Dr. Vernicke persönlich führte. Und wie immer sagte ich ihm dasselbe "Hi", setzte mich auf den Stuhl ihm gegenüber und sah in seine blauen Augen, die mich anstarrten, wie sie es immer taten.

Und dann sprach er wie immer die Worte, die meine Ohren nahezu betäubten:
"Wie geht es dir heute, Samantha?"

•••

DAS WAR KAPITEL 1 FREUNDE!

Lasst mir Feedback da, wenn ihr wollt. Würde mich sehr freuen! <3

Danke fürs Lesen!

Lots of love

Pact with the devil | Andre [COMPLETED]Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt