Prolog

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Ich konnte ihn nicht los lassen.

Liam versuchte mich von ihm weg zu bekommen, was mich wütend machte. Sie sollten mich alle in Ruhe lassen, sie alle sollten gehen.
Immer mehr Tränen rannen an meinem Gesicht hinunter. Ich wimmerte, schrie, hielt ihn im Arm. Doch er würde nie wieder zurück kommen.

»Michael bringt sie von hier weg, sorgt dafür, dass sie keinem mehr Schäden zufügen können.«
Liams Stimme erklang schwach in meinen Ohren. Es war ein Hintergrund Geräusch, das jedoch einen Teil von mir auf sich aufmerksam machte.
Ihm ging es gut, Caitlyn ging es gut, das war gut. Doch Daniel ...

Ich wiegte mich vor und zurück, Steine stachen in meine Knie. Mein Kopf war in seinen Haaren vergraben, meine Tränen sammelten sich und machten es nass. Mein Schluchzen war gedämpft und doch das einzige Geräusch, das die Luft erfüllte.

»Dakota«, sagte Liam und kniete sich neben mich. Ich wollte ihn nicht hier haben, aber irgendwie doch. Meine Brust fühlte sich eingeengt ein, meine durch Silberketten verursachten Wunden an meinen Handgelenken und Fußknöcheln waren längst nicht mehr im Vordergrund. »Dakota, du musst ihn los lassen. Er ist tot, Dakota. Caitlyn wird sich um ihn kümmern. Sie ... Er bedeutet ihr ebenso viel, Kota.«
Als er mich mit dem Spitznamen ansprach, mit dem mich Daniel, mein Bruder, mein letztes lebendes Familienmitglied, schon seit unserer Kindheit nannte, zerbrach mein Herz in tausend Teile.
Nein, er lebte nicht mehr. Er war tot. Ermordet von einem Rogues.

Wut verdrängte den Schmerz. Ich konnte ihn spüren. Den ausgestoßenen Wolf, der meinen Bruder getötet hat. Er lebte, während mein Bruder tot in meinen Armen lag.
Ich schrie mit meiner angeschlagenen Stimme auf, klagte und ließ meinen Schmerz damit raus.
Dann legten sich Finger über meine. Sie waren warm, weich und fühlten sich so gut an. Aber als er begann meine Finger von den Körper meines Bruders zu lösen, ließ ich ihn mithilfe meiner Gabe in der Bewegung inne halten und sich von mir entfernen.

»Lass mich in Ruhe! Ihr alle! Daniel! Bitte nicht. Du bist doch alles ... Bitte, bitte komm zurück «, flehte ich und brach unter den Tränen erneut zusammen.
Liam kämpfte gegen mich, gegen meinen mentalen Willen, den ihn davon abhielt, wieder zu mir zu kommen. Ich verstärkte meine Kraft, doch er brach sie und kam wieder auf mich zu.
Ich versuchte ihn wieder von mir weg zu drängen, er wollte mich nur von meinem Bruder weg holen. Aber er brauchte mich.

»Dakota, du kannst ihn nicht mehr helfen«, sagte Liam leise und legte eine Hand auf meine Wange. Mein Kopf hatte ich gehoben und versuchte den Tränen Einhalt zu gebieten, doch als er diese Worte sagte und sie in meinen Kopf ankamen, kamen sie wieder.
Ich bemerkte erst, dass ich versuchte meinen Bruder zu heilen, als Liam es schaffte, meine Hände von seinen Körper zu heben. Ich legte ihn vorsichtig ab, woraufhin Liam mich an sich zog. Er hielt mich, während ich ein Meer aus Tränen weinte.

»Es wird alles wieder gut«, versuchte Liam mich zu beruhigen, aber er wusste genauso gut wie ich, dass nichts gut werden würde. Das hier war erst der Anfang.
Ich spürte, wie nah mir seine Nähe ging, doch mein Herz war zerbrochen. Es schmerzte mehr, als es mir half und ich wünschte mir, diese Gefühle würden verschwinden.

»Verschließ dich nicht, ich bin für dich da.«
Liam legte seinen Kopf auf meinen und sein Atem wirkte beruhigend auf mich. »Es wird besser, irgendwann.«
Irgendwann.
»Liam, der hier-«
Ich verkrampfte mich. Michael hatte einen Rogues bei sich, einen Wolf, der sich nicht in das Rudel eingliedern konnte. In mir wurde meiner aktiv, er wollte heraus kommen und ihn töten, denn es war der, der meinen Bruder die Seele genommen hat.

»Ich glaube, den kannst du-«
Ich riss mich knurrend von Liam los und stand auf. Meine Trauer war nun endlose Wut, die sich auf diesen Wolf ausrichtete. Die vergangenen Stunden hatten mich seelischen ausgelaugt und meine wirren Gefühle ordneten sich nun endlich.
Er wich vor mir zurück, seine Angst schlug mir entgegen. Michael war von seiner Seite gewichen, hatte sich in sicheren Abstand von mir weg gestellt. Caitlyn, die Gefährtin meines Bruders, sagte etwas und kam zu mir vor, wurde aber sofort wieder weggezogen.

Ich zitterte am gesamten Körper, sah seine Aura vor mit und wollte ihn weh tun. Er hatte mir meinen Bruder genommen, er hatte mir alles genommen, was ich noch hatte.
Ich trat noch einen Schritt vor, seine Aura schwankte zwischen Angst, Verzweiflung und Panik, doch er traute sich nicht wegzulaufen.

Aber ich wollte ihn laufen sehen.
Als ich den nächsten Schritt tat, hörte ich meine Klamotten reißen, ehe ich ihn als Wolf an knurrte.
Ich stand schwankend auf den Pfoten und bleckte meine Zähne.

»Dakota, das bist nicht du.«
Ich schüttelte meinen Kopf, versuchte ihn zu ignorieren.
»Ich weiß, wie du dich fühlst, glaub mir. Aber das ist nicht der richtige Weg. Du kannst ihn töten und keiner wurde es dir übel nehmen. Aber das bist nicht du. Du wirst dich schuldig fühlen, bereuen was du getan hast. Und daran zerbrechen.«
Ich bin schon zerbrochen.

Ich wusste, er konnte mich hören. Er konnte als Alpha eine mentale Verbindung zu jedem aufbauen.
»Ich weiß, Dakota. Aber das willst du nicht wirklich, überlege es dir. Ich unterstütze dich in all deinen Entscheidungen, aber handel nicht übereilt.« Lass dich nicht von deiner Wut leiten.

Aber er hat meinen Bruder getötet.
Ich knurrte abermals und setzte eine Pfote vor.
Ich hatte ihn gerade erst zurück bekommen. Er ... War alles, was ich noch hatte.
»Ich bin bei dir, Dakota. Ich werde es immer sein. Und Daniel ist es auch. Er mag nicht mehr körperlich anwesend sein, jedoch aber seelisch. Er ist bei dir.«

Ich war hin und her gerissen. Ich wollte meine Wut stillen, aber Liam hatte recht: Das war nicht ich.
Plötzlich stand er vor mir und legte eine Hand auf meinen Kopf.
»Wir sind für dich da.«
In diesen Moment verschwand meine Wut und ich senkte meinen Kopf. Er trat näher an mich heran und nahm meinen Kopf zwischen seine Hände.

»Wenn sie es nicht macht, mach ich es.« Damit war Caitlyn knurrend an uns vorbei gerannt und hatte den Rogues mit einem Knacken das Genick gebrochen.

Blind SoulWo Geschichten leben. Entdecke jetzt