②Mortem

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Die Liebe ist etwas Schreckliches.
Man ließ zu, dass Menschen in sein Leben traten, die dann alles verändern. Und wenn sie dann einen Platz in dem Muskeln bekommen haben, dass uns am Leben hält, sich dort tief verankern und es schneller schlagen lassen, ein tiefes Gefühl der Zufriedenheit und Geborgenheit ausstrahlen, dann kam die Härte des Lebens und nahm dir diesen Menschen. Es gab kein Unterschied zwischen der Liebe zu einem Freund, die beste Freundin, der Familie und dem Menschen, den man mit allen Molekülen bei sich haben wollte; das Leben riss sie aus ihren Zuhause in deinem Herzen und hinterließ nichts als Schmerz.

Daniel war mein Bruder, meine Familie. Und nun für immer fort. Ich konnte es nicht glauben, wollte es nicht wahrhaben, doch es war wahr. Ein Teil von mir wusste es schon, hatte sich beruhigt und wollte nichts sehnlicher als sich in eine Ecke setzen und vor und zurück wippen. Doch der andere Teil, der größere, glaubte fest daran, dass es nur ein böser Alptraum war, von dem man noch immer aufwachen konnte.

Doch es war ein Alptraum, aus dem es kein entkommen gab.
Ich fühlte mich schlapp, unfähig überhaupt zu leben. Mein Körper heilte, meine äußerlichen Wunden verschlossen sich, doch die innerlichen würden nie verschwinden. Liam war mit im Raum, ich konnte ihn spüren. Er war mir nahe, seine Wärme versuchte meine innere Kälte zu vertreiben, doch sie schaffte es nicht.

Mir war unklar, wann ich aufgewacht war oder wie lange ich mich in der wohltuenden Bewusstlosigkeit befunden habe, doch es musste noch mitten in der Nacht sein. Vor der Tür konnte ich nichts hören, lediglich ein zwei Stimmen, die sich ab und zu unterhielten. Ich befand mich im Heilerhaus, den Geruch würde ich jederzeit erkennen. Zu viel Zeit hatte ich in der Vergangenheit in ihm verbracht, um Leben gebangt, die ich letztendlich retten konnte. Doch um welchen Preis?

Seit ich wach geworden bin dachte ich darüber nach. War dies meine Strafe dafür, dass ich die Wächter von dem Gift befreit habe? Für all die Male, als ich meinen Fluch als Gabe angesehen habe und Wölfen das Leben rettete?
Ich wusste, es würde mir nicht vergönnt sein, ohne Preis in die Schicksale anderer einzugreifen, die Natur aus den Gleichgewicht zu bringen. Es war mir klar, trotzdem hatte ich mich dazu entschieden, alle Risiken über Bord geworfen und die Leben gerettet. Es waren zwei Dutzend gewesen, zwei Dutzend Wölfe gegen das Leben meines Bruders.

Mit meiner rechten Hand griff ich nach den Handgelenk meines linken Armes. Meine kalten Finger umschlossen den Verband, den man mir über meine offenen Haut gewickelt hatte. Durch meine seitliche Lage tropften meine Tränen mit einem dumpfen Geräusch auf das Kissen, während meine Brust von Schluchzern geschüttelt wurde. Wenn ich das gewusst hätte ... Ich wusste nicht, ob ich sie trotzdem geheilt hätte. Ob ich tatsächlich all die Wächter sterben gelassen hätte, um ihn zu retten. Doch ... Immer mehr Tränen flossen aus meinen Augen.

»Hey«, flüsterte Liam und griff nach meiner Schulter. Die Wärme seiner Hände brannte sich in meine Haut, bereitete mir eine Gänsehaut. »Es ist alles gut.«
Er kam um das Bett und atmete dann nah an meinem Gesicht. Kurz spürte ich seine Lippen an meiner Stirn, bevor er sich vorbeugte und meinen Kopf an seine Schulter drückte. »Es wird wieder alles gut.«

»Er ist wirklich ... wirklich .... tot?«, fragte ich und brach am Ende wieder zusammen. Meine Stimme klang noch immer kratzig und gequält. Es erinnerte mich nicht nur an die letzten Stunden bevor der Bewusstlosigkeit, sonder auch an meine Zeit bei den Rogues, als diese mich entführt hatten. Daniel hatte mich da raus geholt, nur um sich kurze Zeit danach in den Kampf zu stürzen.
Das letzte Wort brachte ich kaum über die Lippen, es fühlte sich an, als würde mein Herz abermals zerbrechen. Es laut auszusprechen gab der Tatsache eine Endgültigkeit, die sich tief in meine Knochen festkrallte.

»Es tut mir so leid Dakota«, flüsterte er und strich durch meine Haare. Sein einzigartiger Geruch benebelte langsam meine Sinne, bis ich allmählich merkte, wie immer weniger Tränen aus meinen Augen flossen.
»Ich hatte solche Angst um dich. Als ich dich außerhalb des Hauses gesehen habe ... Mein Herz blieb für einen Moment stehen und ich hätte dich am liebsten von dort weggezogene.« Er griff nach meinen Händen und fuhr vorsichtig über meine verbundenen Handgelenke. Ich wusste nicht, ob die Wunden verheilt waren, doch etwas spüren konnte ich nicht.

»Deine Klamotten waren voller Blut. Und deine Haut ...« Er zog leichte Kreise auf meinen Handrücken und hinunter über den Verband. »Es tut mir leid. Es tut mir alles so, so leid Dakota. Ich hätte nie gewollt, das du das erleben musst. Nicht noch einmal.«

Ich versuchte den innerlichen Schmerz beiseite zuschieben, doch selbst als ich meine Augen fest zusammen drückte, konnte ich die aufkommenden Tränen nicht zurückhalten.
»Habt ihr ... habt ihr ihn ...«
»Wir wollten warten, bis es dir wieder ... besser geht«, sagte er leise. In meinen Ohren dröhnte es, doch seine Stimme würde ich überall heraushören. »Doch ... du hast dich zwei Tage in dem Zimmer aufgehalten und dann warst du drei Tage hier. Caitlyn wollte, dass er in die Arme der Mondgöttin kommt.«

Also hatten sie ihn verbrannt.
Unsere Toten wurden nicht wie bei den Menschen vergraben, damit sie wieder zu Erde werde. Wölfe glaubten daran, dass einzig das Verbrennen des leblosen Körpers die Erlösung der Seele brachte. Dadurch gelangten sie zu unserer Schöpferin, der Mondgöttin.

Ich kniff meine Lippen zusammen und ballte meine Finger zu einer Faust. Liam umschloss diese mit seinen warmen Händen und atmete tief ein.
»Ich habe versucht ihr klar zu machen, dass wir warten sollten. Doch sie ist ausgetickt und hat mich angeschrien. Ich hatte keine Kraft, es ihr auszureden. Du warst hier und das Silber hatte sich in deinem Blut festgesetzt und deine Haut war immer noch offen.«

Er klang erschöpft. Müde. Kraftlos.
»Und dann hat sie es getan.«
Ich merkte, wie ich langsam wieder wegdriftete. Vielleicht sollte ich sauer auf sie sein, weil sie meinen Bruder ohne mich bestattet hatte, doch ich konnte es ihr nicht übel nehmen. Sie litt wahrscheinlich genauso wie ich, immerhin war er ihr Gefährte, auch wenn ich nicht wusste, ob sie ihre Bindung angenommen hatten. Ich wollte nur schlafen, ich war so müde. Mein Herz schmerzte höllisch, es fühlte sich an, als hätte es mir jemand hinausgerissen.

»Schlaf noch ein wenig, ich bin hier, wenn du aufwachst.«
Ein letztes Mal berührte er meine Stirn mit seinen Lippen, ehe ich dem Schmerz entkam. Doch dies würde nicht lange anhalten, denn er war nun ein Teil von mir.

»Sie wird geboren in der Nacht des ersten Vollmondes, in ihren Augen sein Wesen. Geschickt von der Mondgöttin, soll sie Gleichgewicht und Ordnung bringen. Mit ihrer Gabe kann sie Gutes schaffen, doch verlangt wird ein Opfer. / Zerbricht sie, zerbricht das Gleichgewicht. Als größter Schatz soll sie gelten und ihr Schicksal das Schicksal ihres Volkes sein.«

Blind SoulWo Geschichten leben. Entdecke jetzt