Kapitel 3

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Der Zug ruckelte von einer Seite auf die andere und viele der neuen Initianen klammerten sich mit eisernem Griff an allem fest, was sie zu fassen bekommen konnten.
„Hier müssen wir raus", sagte ein erwachsener Ferox und zeigte dabei auf ein Gebäude. „Auf dieses Dach."
Kim verzog das Gesicht: „Wir sollen springen?"
Der Ferox sah sie spöttisch an und schnaubte abwertend: „Solange du nicht fliegen kannst, wirst du wohl oder übel springen müssen. Oder du bleibst hier. In diesem Zug. Aber dann bist du raus!"
Tracy blickte ihn angesäuert an, sagte aber nichts.

„Kommt schon. Wir schaffen das", murmelte sie Kim und Daniel zu. Dann stellten sie sich hin. Das Gebäude war jetzt da.
„Denkt nicht darüber nach!", rief sie und nahm Anlauf. Schnell taten die beiden anderen es ihr nach.

In den paar Sekunden, in denen Tracy in der Luft war, fühlte sie sich unendlich frei. Es war das, was sie immer gewollt hatte. Die Freiheit, die ihr bei den Candor so sehr gefehlt hatte.
Kurz hatte sie Angst, dass sie nicht genug Anlauf genommen hatte und es nun nicht bis zum Vorsprung des Daches schaffte. Doch ihre Sorge war vollkommen unbegründet. Das merkte sie spätestens, als sie sich auf den harten Schottersteinen abrollte. Es klappte nicht ganz so, wie sie sich das vorgestellt hatte, denn sie hatte nun so einige Löcher in der Kleidung und Schrammen an ihren Beinen.

Stöhnend sah sie sich um. Wo waren Daniel und Kim? Bevor sie weitersehen konnte, streckte Daniel ihr auch schon von oben eine Hand entgegen und lächelte sie schelmisch an. Tracy grinste zurück und ließ sich von ihm auf die Füße helfen.
„Wo ist Kim?", fragte sie und wurde wieder ernst.
„Da vorne. Ich gehe kurz zu ihr", meinte er fröhlich und ging auf die am Boden liegende und kichernde Blonde zu, um auch ihr aufzuhelfen.

Tracy schaute sich in der Zeit um. Sie war Meter weit weg vom Absprung gelandet. So wie sie sehen konnte, war keiner im Zug zurückgeblieben und wenn doch, dann hatte der Initiant niemanden, der sich hier um ihn sorgte. Wenn sie nach vorne sah, erblickte sie einen großen Mann. Vielleicht 19 oder 20 Jahre alt. Genau konnte sie das nicht sagen. Seine dunkelblonden Haare waren gut gestylt und seine blauen Augen blickten autoritär über die anwesenden Initianten. Die erwachsenen Ferox, die im Zug dabei gewesen waren, gesellten sich nun zu ihm, doch er nahm gar keine Notiz von ihnen und ignorierte sie. Dann aber kam Leben in ihn. Er sprang von der Mauer, auf der er bis dahin noch gestanden hatte und schritt nun vor den Jugendlichen umher, die ihn still beobachteten.

„Willkommen bei den Ferox", schallte seine raue Stimme über das Dach. „Ich bin Eric. Einer eurer Ausbilder und ein Anführer der Ferox."
Alle hörten ihm zu. Keiner traute sich, ihn zu unterbrechen. Das würde er nicht dulden. Man würde wahrscheinlich sofort wieder aus der Fraktion geschmissen werden. Jedenfalls war mit Eric nicht zu spaßen. Das sah Tracy ihm sofort an.
„Der einzige Weg in eure neue Fraktion, geht hier lang. Wenn ihr euch nicht traut, gehört ihr hier nicht her! Also.. wer von euch fängt an?"

Alle Initianten sahen auf den Boden, in die Luft, oder in machten sonstige komische Dinge, um von sich abzulenken. Auch Daniel tat so, als würde er gerade einen Fleck von seiner blauen Ken-Kleidung bürsten wollen. Kim und Tracy sahen sich an. Es war klar, dass die gebürtigen Ferox nicht zuerst springen würden. Es war wohl eine stille Abmachung. Die Neuen mussten sich beweisen.
„Mutig", hörte Tracy Eric verächtlich schnauben. „Dann suche ich eben jemanden aus. Wer wäre denn geeignet?"
Er bewegte sich die Reihen entlang und umso näher er Tracy kam, umso nervöser wurde sie. Sie hatte keine Höhenangst, aber sie wusste nicht, was da unten war und zog es vor, es nicht als Erste herauszufinden. Als Eric dann aber vor ihnen stehen blieb, erhöhte sich ihr Herzschlag schon wieder an diesem Tag. Aber das würde sie bei den Ferox wohl nun des öfteren erleben.
„Ja. Wie wäre es mit dir?", meinte Eris schadenfroh und streckte seine Hand aus. Dann packte er Kim an ihrem gelben Amite T-shirt und zog sie bis zur Mauer.
„Spring!", hauchte er bedrohlich. „Oder werde Fraktionslos."
Kim sah voller Angst den Abgrund hinunter und an ihrem Blick konnte Tracy sehen, dass sich dort unten rein gar nichts befand, was einem das Gewissen geben konnte, dass man bei dem Fall nicht starb.
Kim blieb aber nichts anderes übrig. Sie musste springen. Tracy klammerte sich an Daniel fest. Obwohl sie sich erst seit einer halben Stunde kannten, mochte sie ihn.
„Keine Sorge. Sie schafft das", murmelte er ihr zu und strich ihr beruhigend über den Rücken.
Kim hatte sich währenddessen auf die Mauer gestellt.
„Jetzt mach schon!", keifte Eric sie an. Und sie sprang.

Kim's Schrei schallte laut aus dem Abgrund hinaus, bis er nach nicht mal 3 Sekunden plötzlich verstummte. Tracy konnte das gemeine Grinsen auf Eric's Gesicht ganz genau sehen, auch wenn er versuchte, seine kalte Miene zu bewahren. Aber das verräterische Zucken in seinem Mundwinkel war nun wirklich nicht zu übersehen.

Tracy war nun aber wirklich neugierig, was sie da unten auffangen würde. Eine große Matratze? Oder vielleicht Wasser? Das mit dem Wasser war wohl eher unwahrscheinlich. Nicht alle konnten hier schwimmen. Sie wollte es einfach hinter sich bringen.

„Okay!", rief der Anführer. „Der nächste."
Schnell trat Tracy vor.
>Nicht darüber nachdenken! Nicht nach unten gucken! Nur nicht hinsehen
„Herrgott!", schimpfte Eric nun. „Seid ihr zu blöd, um einen Schritt nach vorne zu gehen?!"
Tracy schenkte ihm einen wütenden Blick und war kurz davor zurück zu keifen, besann sich dann aber eines besseren und sprang einfach in das tiefe, dunkle Loch.

Obwohl sie sich darauf vorbereitet hatte, konnte sie nicht anders, als zu kreischen. Aber nicht vor Angst, sondern vor Euphorie. Das Adrenalin schoss ihr in den Körper und sie fühlte nun wirklich jeden einzelnen Muskel.
Tracy wusste nicht genau, wie lange der Fall gedauert hatte, aber es kam ihr vor wie Minuten, in denen sie mit den Armen rudernd nach unten fiel, in die Dunkelheit, von der sie nicht genau wusste, ob sie einen Boden hatte. Doch dann stoppte der Flug abrupt, als sie auf einem sicher gespannten Netz zum landen kam. Das Netz gab unter ihr nach und schleuderte sie dann noch ein paar Mal nach oben, bis sie endlich zum Liegen kam. Vom Rand her streckten sich ihr zwei verschiedene Hände entgegen, die Tracy beide annahm und sich aus dem Netz auf eine große Plattform hochziehen ließ. Eine junge Frau und ein Mann, die beide nur etwas älter waren, als sie selbst, lächelten ihr entgegen. Wobei sie lächelte, während er sie nur fragend musterte.
„Wie heißt du?", fragte er und Tracy stutzte kurz.
>Was will er?
>Deinen Namen! Du sollst ihm deinen Namen sagen!
„Du kannst dir auch einen anderen Namen aussuchen. Aber du solltest gut darüber nachdenken. Du kannst dich nämlich nur einmal entscheiden", erklärte ihr die Blonde Ferox.
„Tracy", meinte Tracy dann. Sie wollte sich nicht anders nennen. Ihr Name war schon ganz okay und auf die Schnelle wäre ihr eh kein besserer Name eingefallen.
„Zweite Springerin: Tracy!", rief der Mann und zeigte Tracy an, dass sie sich zu Kim gesellen sollte.

Mit der Zeit kamen auch die anderen runter gesprungen. Als Daniel, als einer der letzten sprang, schrie er fast wie ein kleines Mädchen, dass sich vor ihrem eigenem Schatten erschrocken hatte. Tracy, Kim und auch einige andere, grölten laut los, oder kicherten nur verhalten hinter vorgehaltener Hand und versuchten dies als Husten zu tarnen. Daniel kam mit hochrotem Kopf auf sie zu und schaute beleidigt aus der Wäsche, als Kim losprustete und versuchte ein vernünftiges Wort heraus zu bekommen: „Was zum Teufel...", wieder lachte sie los. „Was war DAS?!"
„Ach lass mich doch. Du hast ganz genauso geklungen!", mürrisch verschränkte er die Arme, doch Kim musste einfach weiter lachen. Jedenfalls solange, bis Eric, die blonde Frau und der Mann vom Netz und eine weitere Frau mit braunen, langen Haaren sich vor sie stellten und sie schnell zum schweigen brachten.
Die anderen Ferox hatte sich bereits verzogen.

„Willkommen bei den Ferox!", sagte der fremde Mann laut. „Ich bin Four. Das sind Eric, Lauren und Tris."
Nacheinander zeigte er auf sich, Eric, die Frau mit braunen, glatten Haaren und eher knappen Outfit und dann auf die Blonde, die von allen noch am sympathischsten aussah. Denn sie lächelte als einzige.
„Wir sind für die nächsten Wochen eure Trainer. Lauren und Eric nehmen sich die Wechsler vor. Ich und Tris trainieren die gebürtigen Ferox."
Auf Seiten der Ferox gab es ein einstimmiges und erleichtertes aufseufzen. Tracy und ihre Leidensgenossen wussten sofort, dass sie scheinbar die Arschkarte gezogen hatten. Eric erschien sehr streng und Lauren nur auf äußeres bedacht. Aber vielleicht irrten sie sich ja auch und die Beiden waren doch nicht so schlimm. Das versuchten sich einige einzureden, auch wenn sie nicht wirklich daran glaubten.

„Teilt euch bitte auf. Die Wechsler auf die linke Seite, die anderen auf die rechte", sagte Four streng. Tracy und ihre neuen Freunde gingen auf die linke Seite.
„Okay. Folgt mir Initianten", herrschte Eric sie an und sofort kamen sie dem Befehl nach. Lauren und Eric zeigten ihnen die Grube, den Speisesaal und die Trainingshallen. Auf der Führung nutzte Lauren die Zeit, um sich an Eric ranzumachen und sie berührte ihn, wann immer sie die Möglichkeit dazu hatte. Tracy fragte sich nun wirklich, ob die Beiden ein Paar waren. Im Prinzip, konnte es ihr egal sein. Aber sie war nun mal von Natur aus neugierig.

Am Schluss wurde ihnen noch der Schlafsaal gezeigt. Es war ein einzelner Raum, mit zehn Betten. Es gab eine Tür, die zum angrenzenden Badezimmer führte.
„Ist das für die Mädchen, oder für die Jungen?", war die erste Frage, die von einem ehemaligen Ken gestellt wurde. Tracy hätte dies auch selbst beantworten können.
„Für beide", war Laurens simple Antwort, wobei Eric schon wieder unglaublich genervt schien.
>Jetzt wissen wir wenigstens, wer von denen mehr Geduld hat

Tracy ließ sich nicht von den Diskussionen ihrer Mitinitianten ablenken und suchte sich in der Zwischenzeit eines der zehn Betten aus, dass in der Nähe der Tür und auch an der Wand stand. Sie war eine schreckliche Frühaufsteherin und wollte dann nicht immer durch den ganzen Raum laufen, wenn die anderen noch schliefen.

„Klappe jetzt!", keifte Lauren plötzlich ein ehemaliges Ken-Mädchen an, welches daraufhin verschreckt zurück zuckte. „Wenn einer von euch ein Problem damit hat, hier zu schlafen, könnt ihr ja bei den Fraktionslosen schlafen! Ich will nicht noch eine Beschwerde hören!"
Eric sah sie unbeeindruckt an. Es war ihm wohl egal, ob Lauren jetzt noch mit uns diskutieren wollte. Er lehnte noch immer in der offenen Tür und beobachtete das Treiben solange, bis es ihm scheinbar zu blöd wurde.
„Okay.. Es reicht jetzt!", machte er auf sich aufmerksam. Auch Tracy sah nun wieder interessiert auf. „Nehmt euch passende Kleidung von dem Tisch da. Zieht eure Alte aus. Ihr werdet sie gleich entsorgen. Die Kleidung braucht ihr ab jetzt nicht mehr. Jeder Ferox hat ein Konto mit Punkten. Mit diesen Punkten könnt ihr weitere Kleidung oder andere Dinge kaufen, die ihr braucht."
Tracy beeilte sich beim aufstehen. Sie war relativ klein. Lediglich 1,60 Meter. Sie brauchte also sehr kleine Klamotten. Vor allem, wenn sie sich die anderen Initianten so ansah. Sie war bei weitem die Kleinste und auch Kim war mindestens 10 bis 15 cm größer, als Tracy.

Auf dem Tisch gab es kurze Hosen, lange Hosen, T-Shirts, Pullover, Jacken und auch Schuhe und Socken. Schnell nahm sie sich eine lange, enganliegende Hose, ein knappes T-Shirt und Schuhe in der Größe 37. Eigentlich hatte sie sogar 36. Aber diese Größe gab es gar nicht zur Auswahl. Dann schnappte sie sich noch eine dünne, schwarze Jacke. Generell war die ganze Kleidung schwarz. Nur bei ihren Schuhen waren ein paar schmale, weiße Streifen zu sehen und das auch nur an der Ferse.

Sich vor anderen umzuziehen war kein Problem für sie. Sie war nicht prüde. Außerdem waren alle Initianten eh damit beschäftigt, sich so gut wie möglich selbst zu verstecken. Die Ausbilder hatten solange den Raum verlassen und waren in ein Zimmer ein paar Türen weiter gegangen, wo die alte Kleidung gleich verbrannt werden sollte.
Als Tracy fertig war, konnte sie auf dem Tisch noch einige Dinge sehen, die ihr bestimmt passten. Also schnappte sie sich noch ein paar T-Shirts und kurze, sowie lange Hosen. Dann noch eine etwas dickere Jacke, die sie wenn es in der Nacht kalt wurde, sicher wärmen konnten. Die Sachen die sie jetzt nicht brauchte, legte sie alle ordentlich in den Spind, der bei jedem neben dem Bett stand.

In schwarzem T-shirt, langer Hose, etwas zu großen Schuhen und einer dünnen Jacke verließ sie schlussendlich mit Daniel und Kim, die sich auch schon über die Kleidung beschwerte, den Saal.
„Das sieht bestimmt schrecklich an mir aus!", jammerte sie und Tracy lachte laut auf. Was das anging, waren sie so unheimlich verschieden. Daniel beschloss, sich da nicht einzumischen. Die Wahrscheinlichkeit, dass er nun etwas falsches sagen konnte, war nicht unbedingt gering.
Tracy bemerkte sofort, dass er nun zwangsweise schwieg. Vermutlich machte er sich gerade über die Sorgen des weiblichen Geschlechts lustig.

„Na endlich. Wo sind die anderen?", wollte Eric ungeduldig wissen.
„Die sind damit beschäftigt ihren nackten Hintern voreinander zu verstecken", kicherte Tracy und bekam einen bösen Blick von Eric. Dann verließ er den Raum. Die drei neuen Freunde sahen ihm hinterher. Nicht mal eine Minute später kam er in Begleitung der anderen zurück.
„Schmeißt eure Sachen da rein!", knurrte er. „Ihr seid jetzt Feroxinitianten. Also vergesst alle Dinge, die ihr in euren alten Fraktionen gelernt habt. Sie werden euch hier nämlich rein gar nichts nützen!"
Manche nickten, manche ließen es aber auch einfach.

Das Gefühl, als Tracy ihre weiße Candor-Kleidung ins Feuer fallen ließ, war überwältigend. Es war, als hätte sie gerade eine Art Schlussstrich gezogen. Natürlich hatte sie keine schlimme Kindheit. Aber sie war nicht wirklich glücklich gewesen. Es war einfach nicht ihre Welt und obwohl sie erst seit vielleicht einer Stunde, oder auch etwas mehr hier in diesem Hauptquartier war, fühlte sie sich richtig wohl.



Tracy LevineWo Geschichten leben. Entdecke jetzt