Der Besuchertag war schneller da, als Tracy gucken konnte. Im Schlafsaal konnte man deutlich die Jugendlichen ausmachen, deren Eltern sie besuchen würden. Diese machten sich nämlich gerade ordentlich zurecht und achteten doch mal etwas mehr auf ihre Frisur, als sonst. Genauso passten sie darauf auf, dass ihr Kleidung keine Flecken oder Löcher vorwies. Kim sog sich schwarze Shorts und ein enges, rotes
T-shirt an. Daniel hatte lange, schwarze Jeans an und ein Muskel betontes Shirt, was Kim fast zum sabbern brachte. So hatten sich fast alle im Schlafsaal angezogen. Nur Devon, Fire und Tracy nicht. Die Mädchen saßen auf ihren Betten, während Devon schon vor knapp zehn Minuten aus dem Raum verschwunden war. Generell war er heute sehr ruhig und schien ungewohnt nachdenklich.
„Kann ich meine Sachen kurz da ablegen?", wollte Kim wissen und deutete auf
Tracy's Bett. Diese nickte, als sie sah, dass das Bett ihrer Freundin bereits voll belegt war und stand auf. Kaum das sie stand, wurde sie auch schon von Kevin angeschnauzt, dass sie im Weg stehen würde. Sie war gerade dabei, zu einer patzigen Antwort anzusetzen, als das schon jemand anderes für sie erledigte.
„Halt die Klappe Muttersöhnchen und lauf weiter oder ich brech dir die Nase!"
Während Fire das gesagt hatte, lehnte sie ganz entspannt in ihrem Bett, warf Kevin aber einen warnenden Blick zu, der kurz Schluckte und wohl überlegte, ob er etwas antworten sollte, Fire ließ es aber gar nicht so weit kommen.
„Behalt es für dich und geh mir aus der Sonne", blaffte sie und der Junge machte nun, dass er weg kam. Tracy sah skeptisch auf die leicht flackernden Lichter an der Decke. Ach ja.. die Sonne.
„Setz dich", meinte Fire und machte mit ihrer Tonlage deutlich, dass sie keinen Widerspruch hören wollte. Mit einer kleinen Handbewegung deutete sie neben sich und rutschte etwas zur Seite.
Tracy fügte sich und hockte sich neben sie.
„Deine Familie kommt wohl auch nicht?", durchbrach Fire nach ein paar Minuten die Stimme. Ihre Sitznachbarin zuckte ahnungslos mit den Schultern.
„Ich bezweifle es, aber wenn doch, dann werde ich mich sicher nicht besonders ordentlich machen."
Fire nickte: „Deine Einstellung gefällt mir."
Tracy lächelte sie an: „Danke."
„Werd bloß nicht anhänglich."
Schnell schüttelte sie den Kopf und grinste: „Würde mir nie einfallen."
Die anderen waren immer noch dabei, nervös durch den Schlafsaal zu laufen. Tracy würde sich sicher nicht fein machen, nur weil ganz eventuell jemand kommen würde, um sie zu besuchen und die Wahrscheinlichkeit, dass das geschah, war sehr gering. Vermutlich würde sie also eh den Tag nicht in der Grube verbringen, mit all den tollen Eltern, die gekommen waren, um ihre Kinder zu besuchen und ihre Familie wieder an einem Ort zusammenzubringen. Sie würde einfach trainieren oder einkaufen gehen.
Fire blickte sie von der Seite her an: „ Du siehst komisch aus, wenn du so angestrengt nachdenkst."
Tracy runzelte die Stirn und blickte empört zu ihrer Sitznachbarin.. Was sollte man darauf denn antworten? „Hey!"? Oder doch besser: „Danke?"? Das war doch beides nicht wirklich gut. Eigentlich hätte sie jetzt irgendeinen guten Spruch zurück pfeffern müssen, aber war es nicht immer so, dass man, wenn man gerade einen guten Konter brauchte, sie einem nicht einfielen. Deshalb ließ es Tracy einfach sein. Immer noch besser, als eine mickrige zu bringen. Das war meistens ziemlich erbärmlich.
„Deine Eltern kommen nicht?", stellte die Braunhaarige fest.
Fire schüttelte bloß den Kopf: „Wohl eher nicht."
An ihrer Tonlage konnte man sofort erkennen, dass sie nicht weiter über das Thema reden wollte.
„Und was machst du dann heute?"
„So genau weiß ich das noch nicht. Ich.. ich hatte überlegt, einfach zu trainieren, aber um ehrlich zu sein, habe ich darauf keine Lust", erwiderte sie lustlos und stöhnte frustriert auf. „Das wird ein langweiliger Tag."
„Hm...", überlegte Tracy und grinste schelmisch, als ein Plan in ihrem Kopf zu formen begann. „Wie wäre es, wenn wir den Tag gemeinsam verbringen. Ich glaube nicht, dass meine Familie kommen wird. Kim wollte mich mit auf die nächste Party schleppen, die stattfindet und das dürfte wohl die sein, die nach der ersten Phase stattfindet. Ich brauche noch ein Kleid. Willst du mir suchen helfen? Du könntest dir ja auch was holen. Es muss schließlich kein Kleid sein. Ich bin mir sicher, dass dir dort auch andere Sachen zusagen werden."
Als Tracy Fire's Gesicht bei dem Wort 'Kleid' gesehen hatte, hatte sie schnell versucht, ihr eine kleine Alternative vorzuschlagen. Fire sah nun etwas ruhiger aus und, als würde sie tatsächlich über den Vorschlag nachdenken. Schließlich nickte sie.
„Okay. Ich komm mit. Aber nur, weil ich nichts besseres zu tun habe, damit das klar ist!", erklärte sie schnell, bevor beide aufstanden.
„Wo gehst du hin? Du kannst uns doch nicht alleine lassen!", empörte sich Kim und schnappte hektisch nach Luft. Sie zeigte auf Daniel und sich selbst. „Wir brauchen dich doch."
Tracy schüttelte entschuldigend den Kopf: „Es ist okay, wenn meine Familie nicht kommt, aber ich möchte es mir ersparen, die anderen Familien zu sehen, die heute glücklich sind, sich wiederzusehen. Hab Spaß. Wir sehen uns später."
Damit gingen Fire und Tracy aus dem Raum. Die beiden schwiegen größtenteils, aber es war keine peinliche Stille, sondern eher sehr angenehm. Jedenfalls solange, bis Fire die Stille schließlich doch durchbrach: „Wie kommt es, dass so jemand, wie du, es mit so einer Quasselstrippe, wie Goldlöckchen aushältst?"
Verständnislos schaute Tracy zu ihrer... Freundin? Bekannten? Mitinitiantin? Keine Ahnung, was Fire eigentlich für sie war. Aber dieser Frage würde sie sich später mal zuwenden. Zuerst versuchte sie herauszufinden, wer 'Goldlöckchen' war.
Fire schien ihren ahnungslosen Blick aufzufangen und lachte leicht. Ihr Lachen klang sehr rau, für das einer Frau. Aber nicht unangenehm. Es ging eigentlich.
„Du hast keine Ahnung, wen ich meine. Oder?", vergewisserte sie sich. „Ich meine, die kleine Amite. Wie heißt sie noch gleich? Kelly? Kimberly? Was war es denn?"
„Könnte es sein, dass du Kim meinst?", skeptisch blickte Tracy zur Seite.
„Ja!", sie schüttelte kurz den Kopf. „Kim! Genau! Wie hältst du das denn aus? Sie redet die ganze Zeit. Hast du nicht auch mal was zu sagen, was du anderen erzählen willst?"
Teilnahmslos zuckte sie mit den Schultern: „Ich weiß nicht. Kim redet wohl gerne und ich habe nichts dagegen. Und du redest doch auch nie. Generell hast du auch sehr wenig Kontakt zu anderen Menschen. Oder?"
„Ich mag die meisten Menschen nicht. Manche sind überheblich, faul und sie wissen überhaupt nicht, was für ein Glück sie haben, so zu leben, wie sie es nun mal hier tun. Sie haben genügend Essen und haben ein weiches Bett. Sie denken nie an die ärmeren oder die Fraktionslosen da draußen. Sie haben keine Ahnung, wie schwer es da draußen sein kann."
„Und du weißt das?", wollte Tracy neugierig wissen.
Fire schien zu überlegen, bevor sie schließlich antwortete. Man hörte, dass sie genau darauf achtete, was sie nun sagte: „Ich bin mit den Gefahren da draußen vertraut und kann sie nachvollziehen."
Auch, wenn Tracy sicher noch gerne mehr gehört hätte, wusste sie, dass aus diesem Mädchen nichts rauszubekommen war. Sie würde nun nichts mehr sagen.
„Du hast vielleicht Recht. Die wenigsten würdigen das, was sie haben", hauchte sie und ihr Blick war dabei in die Ferne gerichtet. Sie war nicht besser. Das musste sie zugeben. Wie oft war sie an den Fraktionslosen vorbei gelaufen und hatte so getan, als würde sie sie nicht sehen, weil es ihr peinlich war, dass es so etwas in ihrem System gab. Menschen, die hungern mussten und froren. Aber sie konnte auch nichts dagegen tun und sie traute sich auch ehrlich gesagt nicht.
„Du hörst dich an, wie eine Altruan", stellte Tracy dann fest.
Fire lachte laut auf: „Altruan? Nein. Ich habe an der Grenze vom Kengebiet gewohnt."
„Oh achso! Ich glaube, ich weiß, wo ungefähr. Moment. Auf der Seite, wo auch die vielen Fraktionslosen leben oder mehr in Richtung Stadtzentrum?"
„Fraktionslose", antwortete sie und kräuselte leicht ihre Nase. „Ich habe sie jeden Tag beobachtet. Ich konnte sie immer sehen und es war fast, als hätte ich bei ihnen gelebt, so nah war es."
Damit war das Thema erledigt. Tracy wollte und konnte darauf gar nichts erwidern. Also gingen die beiden auf einen Laden zu, der aussah, als hätte er Kleider. So war es dann auch. Zusammen durchstöberten sie die Reihen und versuchten etwas geeignetes zu finden. Es sollte weder nuttig, noch prüde aussehen. Tracy war halb am Verzweifeln, während sie durch den Laden raste, und an jeder Stange, jedes Kleid mehrmals betrachtete und schließlich doch wieder zurück hängte, weil es nicht das Richtige war. Fire sah der ganzen Sache eher skeptisch entgegen, half aber trotzdem mit. Wenn auch nicht so gründlich, da sie immer mal wieder einen Blick zu Tracy warf, um zu gucken, dass bei ihr noch alles okay war. Diese jammerte nämlich durchgehend, weil sie nicht wusste, was sie tun sollte. Sie wollte schließlich nicht in Trainingssachen dort auftauchen.
Schließlich hatte Fire die Schnauze voll, ging auf das leicht aufgelöste Mädchen zu und drückte sie auf einen Hocker, auf dem sie dann auch sitzen blieb.
„Warte hier", befahl sie und verschwand kurz.
Verwirrt blieb Tracy sitzen und blickte sich im Laden um. Weshalb machte sie sich eigentlich so viel daraus, ein passendes Kleid zu finden? Sie war doch sonst gar nicht so. Normalerweise war es ihr egal, ob sie passend gekleidet war, oder nicht. War es etwa wegen Eric? Weil er vermutlich auch auf der Party war? Sie musste ehrlich zu sich sein. Ja, sie wollte ihn beeindrucken und für ihn aus der Menge herausstechen. Weder als Mauerblümchen, noch als Nutte gekleidet würde sie auf diese Party gehen. Sie wusste wirklich nicht, ob sie sich darüber freuen oder ärgern sollte, dass sie Kim zugesagt hatte, sie auf der nächsten Party zu begleiten. Einerseits würde sie so nicht als Spaßbremse und Langweilerin dastehen, andererseits, musste sie zugeben, dass sie noch nie auf Party's war und sich sicherlich gnadenlos blamieren würde. Würde sie Eric so überhaupt beeindrucken können?
„Okay", meinte Fire, als sie wiederkam. In ihrer Hand hielt sie einen Kleiderbügel. Der schwarze Stoff des Kleides fiel fließend nach unten durch. Unten ging es weiter auseinander und endete in leichtem Tüll. Lang war das Kleid nicht, aber es sah auch nicht billig aus. Es war eigentlich perfekt für sie. Wo hatte Fire das denn nur her?!
„Jetzt zieh es schon an. Ich warte solange hier", schnaubte Fire und drückte ihr alles in die Hand.
Tracy verschwand in der Umkleide und streifte sich ihre Klamotten vom Körper. Jetzt, wo sie sich so im großen Spiegel sah, bemerkte sie erst, dass sie in letzter Zeit dünner geworden war, als sie sowieso schon war. Aber es sah nicht ungesund aus. Die Muskeln, die ihren Bauch schön flach erscheinen ließen, waren wohl bei dem ganzen Training entstanden. Vorsichtig ließ sie ihre Hand über ihren Bauch wandern. Er war nicht mehr ganz so weich, wie er bei den Candor gewesen war. Davor war sie auch nicht speckig gewesen, aber so ausgeprägt war ihr Bauch sicherlich auch nicht. Das machte sie schon etwas stolz.
„Jetzt mach schon!", hörte sie Fire's Stimme von draußen. „Ich kann sehen, dass du dich nicht bewegst!"
Tracy blickte sich irritiert um, bis die bemerkte, dass Fire sicherlich ihre Füße unter dem Vorhang hatte sehen können.
„Sei nicht so ungeduldig", lachte sie. „Wir haben doch noch massig Zeit!"
Draußen hörte sie Fire grummeln und beschloss dann, sich doch zu beeilen. Schnell öffnete sie den Reißverschluss und stieg in das Kleid. Vorsichtig versuchte sie, den Verschluss wieder zuzumachen, was ihr aber nicht so ganz gelang.
„Ähm Fire?", rief sie zögerlich und öffnete leicht den Vorhang, um sie ansehen zu können. „Kannst du mir das Kleid zu machen?"
Diese seufzte ergeben, stand vom Hocker auf, auf dem sie gesessen hatte und schloss langsam den Verschluss.
Erst jetzt sah Tracy in den Spiegel und sie musste zugeben, dass sie das Kleid liebte. Es war einfach wundervoll. Wie für sie gemacht. Fire hatte dafür echt ein Händchen.
„Es ist echt toll. Danke", flüsterte sie, drehte sich dann um und umarmte das Mädchen hinter sich erfreut, die erst nach kurzem Zögern die Umarmung erwiderte und sich dann nach einigen Sekunden wieder daraus löste.
Das erste Mal, seit Tracy Fire kennengelernt hatte, schien ihr etwas peinlich zu sein, denn ihre Wangen hatten sich rötlich verfärbt. Peinlich berührt räusperte sie sich und versuchte wieder zu alter Form zurückzukommen: „Schon gut. Wenn du Eric aber wirklich beeindrucken möchtest, dann solltest du vielleicht noch passende Schuhe finden."
Erschrocken blickte Tracy sie an. Woher zum Teufel wusste sie das? Ihre Gefühle konnten doch unmöglich so offensichtlich sein.
„Woher..?", stammelte sie unbeholfen.
„Ach komm schon. Ich bin nicht blöd. Und jetzt geh an die Kasse zum bezahlen. Damit wir weiter können. Wenn du da wieder so lange brauchst, wie hier, sind wir auch am Abend noch nicht fertig. Du hast 1 ½ Stunden gebraucht."
Verwundert sah sie auf eine Uhr, die an der Wand hing. Wirklich. Etwa 90 Minuten hatte sie in diesem Geschäft verbracht. Um Fire's Nerven nicht noch mehr zu strapazieren, ging sie zu einer Frau, die hinter einer Kasse stand und gab ihr das Kleid.
„Wie heißt du?", wollte diese wissen und tippte Tracy's Namen dann in den Computer ein. „Oh.. eine Initiantin. Na dann viel Glück. Soviel ich weiß, endet die erste Phase bald. Nervös?"
Tracy lächelte leicht: „Etwas. Aber es geht."
Sie verabschiedete sich freundlich von der Frau Mitte 40 und verließ dann mit Fire den Laden, um daraufhin sofort den nächsten zu betreten. Schuhe brauchte sie schließlich auch noch.
„Nun komm schon", grinste Fire und zog sie weiter zu einem Schuhgeschäft. Sie schien wohl doch etwas Spaß daran gefunden zu haben, Tracy durch alle Geschäfte zu ziehen, um für sie etwas Party taugliches zu finden. Sie musste verschiedene Schuhe anprobieren. Rote, schwarze und auch dunkelblaue. Ballarinas und ähnliches ließ Fire gar nicht erst in ihre Nähe. Immerhin war es eine Party und da wollte sie ja wohl nicht in einem Klein-Mädchen-Kostüm auftauchen.
Tracy hatte immer gedacht, Fire wäre bloß dieses ernste, kalte Mädchen, welches alles daran setzte, keine Gefühle an sich heran zu lassen, aber an diesem Nachmittag schien sie irgendwie aufzutauen. Am liebsten hätte Tracy sie gefragt, was sie dazu brachte, heute so locker mit zu sein. Und was hatte sie dazu bewegt, ausgerechnet in ihrer Gegenwart zu zeigen, dass sie auch anders sein konnte? Doch sie fragte nichts davon. Das würde wohl die ausgelassene Stimmung zerstören. Also ließ sich Tracy weiter von ihr mit Schuhen zudecken und probierte diese auch alle brav an.
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Tracy Levine
Fiksi PenggemarTracy Levine wächst bei den Candor auf, weiß aber schon seit sie klein ist, dass sie dort gar nicht hinpasst. Mit 16 Jahren trifft sie die endgültige Entscheidung und wechselt zu den Ferox, wo sie den strengen, aber doch gutaussehenden Anführer Eric...