Kapitel X - Verstand

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"Ich hab keine Ahnung, wer das war. Ich versuche mich doch die ganze Zeit anzustrengen Noah, ich schaffe es einfach nicht", sagte ich verzweifelt zu Noah, der immernoch, ebenfalls verzweifelt, versuchte herauszufinden, wer dieser Mann im Wald war.

"Sein Geruch war überall an dir, es war nicht zu überrichen. Wie nahe war er denn bitte an dir?"

Mir fiel meine Klappe zu Boden. Erschrocken starrte ich ihn an, bis ich mich wieder sammeln und klare Sätze formulieren konnte.

"Oh, verzeih mir bitte. Das nächste Mal bitte ich ihn, mich von etwas weiter weg zusammenzuschlagen", gab ich sauer von mir und starrte stur geradeaus.

"Alyssa, provozier mich nicht. Es geht hier um eine ernste Sache. Erzähl mir bitte noch einmal alles, wie er aussah, was er gesagt hat, einfach alles."

"Schätzchen, jede von dir genannte Information bringt uns dem Fall deiner Eltern näher", meldete sich nun Noahs Großvater zu Wort.

Ich atmete tief durch und versuchte mich zu beruhigen, ehe ich das Geschehen zum fünfzigsten Mal erneut erzählte.

"Er ist aus dem Nichts aufgetaucht, und ... und ... er hat solche provozierenden Andeutungen gemacht, unter anderem Sachen gesagt wie, dass wenn ich nicht sein Erzfeind wäre, er mich schon längst zu seines Gleichen gemacht hätte, er hat mich gegen den Baum gedrückt und mein Kinn festgehalten. Als er jedoch weitergehen wollte, habe ich angefangen zu schreien ... Danach hat er mich mit voller Wucht gegen den Baum geworfen glaube ich, und gesagt, dass wenn ich nicht sofort die Klappe halten würde, er mich dort hinschicken würde, wo meine Eltern wären und ..."

Ich konnte nicht weitersprechen, weil Noah aggressiv gegen den Tisch schlug, der dann wenige Augenblicke später in tausende von Stücken zusammenbrach.

"Dieser Bastard", schrie er und fing an, durch den ganzen Raum zu laufen.

"Noah, beruhig dich", sagte sein Großvater verzweifelt.

"Wie soll ich bitte ruhig werden, sagt mir das! Nennt mir ein guten Grund! Dieser Mistkerl hat sie angefasst, und das gegen ihren Willen! Ich drehe durch."

Noah war nicht mehr zu stoppen, aber viel mehr machte ich mir Gedanken über die letzten Sätze, die er ausgesprochen hatte.

"Kannst du mal bitte runterkommen", sprach ich dieses Mal auf ihn ein.

Er schaute mich dieses Mal emotionslos an.

"Was soll das jetzt heißen? Scheint dir dann wohl gefallen zu haben, dass dieser Bastard dich berührt hat."

Ich wusste nicht, wie ich darauf reagieren sollte. Eine Welle der Wut, dann Enttäuschung, und dann nur noch Trauer überfiel mich und nahm meinen ganzen Körper in Besitz.

"Nimm das zurück", gab ich leise von mir. Jedoch war ich mir sicher, dass sowohl Noah als auch sein Großvater diese drei Worte gehört hatten.

"Das ist doch gerade nicht das Thema", sprach Noahs Großvater nun auf uns ein.

Ich hielt es nicht länger aus und ging auf Noah zu und holte tief aus, bevor meine Faust sein Gesicht berührte. Eigentlich hätte ich mir meine Hand brechen müssen, so dolle hatte ich zugeschlagen. Sein Gesicht war auch nicht gerade federweich. Ich wurde immer lauter und schlug immer mehr auf seinen Oberkörper ein.

"Ich hab gesagt, du sollst es zurücknehmen", knurrte ich.

"Noah, es reicht. Reiz sie nicht noch mehr als nötig. Wir wissen beide, dass einer von euch nicht lebend aus der Sache kommen kann. Sie ist eine Neugeborene."

"Und du, Alyssa, beruhig dich."

Es war das erste Mal, dass sein Großvater meinen Namen ausgesprochen hatte. Von Noah kam nur ein leises "Sorry", und ich entschied mich dazu, diese kindische Auseinandersetzung nicht weiter fortzuführen, da die Platzwunde an meinem Kopf höllisch wehtat.

"Schätzchen, gibt es noch irgendwas, dass du uns über diesen Mann erzählen kannst?"

Ich überlegte lange, bevor ich antwortete.

"Ich weiß nicht, ob ich mir das einbilde, aber ich bin der Meinung sowas wie >wir werden uns wiedersehen< oder ähnliches gehört zu haben. Was ich aber mit einhundert prozentiger Sicherheit sagen kann, ist, dass er weiß, wer meine Eltern getötet hat. Er war ein Mann mittleren Alters, er hatte einen Bart und ..."

Ich versuchte mich anzustrengen, jedoch fiel mir einfach nichts mehr ein. Bis auf eine Kleinigkeit.

"... er hat gestunken! Er hat wahnsinnig dolle gestunken. Als hätte er das letzte Jahrhundert in einem Raum voller totem Fisch verbracht."

Bei dem Gedanken an sein Geruch wurde mir ruckartig übel. Noah fing in der Ecke an zu grinsen.

"Eindeutig Vampir", sagte Noah. Neben mir fing auch sein Großvater an zu grinsen.

"Vamp ... was?"

"Tja Prinzessin, willkommen in unserer Welt", sagte er.

Ich war kurz davor, den Verstand zu verlieren. Dieser widerliche Kerl der nach abartigem zehn Jahre vergammeltem totem Fisch gestunken hatte, war ein Vampir?

Meine Nerven waren so blank, dass ich vor Wut anfing zu lachen. So laut, dass ich Bauchschmerzen hatte. So dolle, dass mir die Tränen die Wangen herunterflossen.

"Bitte, bringt mich in die Klapse", sagte ich. Es war das erste Mal, dass ich in den letzten Tagen angefangen hatte, so herzhaft zu lachen. Auch wenn das eher nervenbedingt war, tat es gut, zu lachen. Ich hatte es vermisst, vermisst ich zu sein. Ich konnte selber nicht akzeptieren was ich war. Was würde noch alles auf mich zukommen? Seit der ganzen Werwolfsache ging alles in meinem Leben schief.

Nachdem ich mich dann einigermaßen beruhigt hatte, versuchte ich einen kühlen Kopf zu bekommen. Die Frage, die mir jetzt auf der Zunge lag, war mir mehr als peinlich. Deswegen schluckte ich die Frage mit dem riesigen Klos in meinem Hals hinunter und schwieg.

"Ich werde euch jetzt alleine lassen müssen, da ich mich gerne ausruhen würde. Könnt ihr mir versprechen, euch die nächsten Stunden nicht den Kopf abzureißen", fragte Noahs Großvater.

Ich schwieg und sagte gar nichts, genau wie Noah.

"Ich nehme mal an, dass das eine positive Übereinstimmung ist und ich mich in Ruhe schlafen legen kann", sagte er und ging grinsend aus dem Wohnzimmer.

Still stand ich auf und ging in Noahs Zimmer, jedoch hielt er mich auf, indem er mich an meinem Ellenbogen packte.

"Es tut mir leid wegen gerade eben", raunte er mir mit seiner tiefen, rauen, wunderschönen Sti...

Moment mal! Was fasselte ich da vor mich hin? Ich meinte natürlich: "raunte er mir mit seiner tiefen, rauen Stimme in mein Ohr."

"Ich konnte den Gedanken nicht ertragen, dass dich jemand anderes anfässt. Ich dachte für einen kurzen Moment, dass ich den Verstand verliere", gab er etwas ruhiger von sich.

"Sorry, aber das hat dich doch eigentlich nichts anzugehen. Ich meine, klar es war gegen meinen Willen. Aber du bist weder mein Bruder noch mein Freund. Deshalb verstehe ich nicht, was diese unnötige Aktion soll."

Er schaute mir tief in meine dunkelblauen Augen und zog sich plötzlich zurück.

"Es ging mich auch nur was an, weil es gegen deinen Willen war. Ich hoffe, dass du dir da nichts anderes bei erhofft hast."

Ich hörte wohl nicht richtig?

"Was? Ich mir erhoffen? Auf jeden Fall. Gute Nacht", sagte ich, und löste meinen Ellenbogen aus seinem Griff.

Ich ging in sein Zimmer und legte mich direkt auf das Bett. Schon kam Lennox auf das Bett gesprungen und schmiegte sich an mich.

"Wenn ich dich nicht hätte, mein Großer", murmelte ich und gab ihm einen Kuss auf seinen Kopf. Keine zwei Sekunden später war er eingeschlafen. Hoffentlich würde das bei mir auch so schnell gehen.

Hoffentlich.



Hello my dears! <3
Hier bin ich wieder mit einem neuen Kapitel am Start.
Ich hoffe natürlich wie immer, dass Euch das Kapitel gefallen hat. Gerne freue ich mich über Feedback und Votes, wenn es Euch natürlich gefallen hat.
Genießt die freien Tage, wenn nicht sogar Ferien.

Bis zum nächsten Mal. <3

Eure G. <3

Run (abgeschlossen)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt