Kapitel 1

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Das Herz schlug mir bis zum Hals, als ich den weißen Brief in meinen zittrigen Händen hielt. Ein Brief, der über mein Leben - über das Leben aller 18 Jährigen entscheiden sollte.

Mein Selektionsbrief.

Selia, meine beste Freundin saß mir gegenüber. Auch sie hielt ihren Umschlag in der Hand, musterte ihn genauso nervös wie ich es war. Für gewöhnlich konnte sie nichts und niemand verunsichern. Sie wusste immer was zu tun war, schon seit ich sie kannte. Aber jetzt?

Ihr sonst so hübsches Gesicht war von Sorgenfalten geprägt. Ihre pastellviolett gefärbten Haare waren schweißnass und die haselnussbraunen Augen spiegelten die Angst wieder, die in ihrem Kopf wütete. Liebend gern hätte ich sie beruhigt, ihr gesagt, dass alles gut wird, aber auch ich brachte kein Wort heraus. Wer würde das schon?

Die Selektionsbriefe entschieden über dein Leben. Ob du würdig bist, oder dich erst beweisen musst. Kannst du dich nicht beweisen, wirst du exekutiert.

Es klingt barbarisch, aber es muss sein. Es gibt zu viele Menschen auf zu wenig Platz und mit zu wenig Rohstoffen. Gäbe es keine Selektion wäre die Menschheit dem Untergang geweiht. Keiner hätte mehr Raum, oder Nahrung um zu überleben und alles würde im Chaos versinken. Wir nennen es den Friedenskrieg. Wir benutzen Gewalt um den Frieden zu wahren.

Als ich klein war habe ich es nicht verstanden, aber mit dem Alter kommt die Erkenntnis; Es geht nicht anders.

Nach dem 3. Weltkrieg musste die Welt komplett reformiert werden. Es begann in einem Land, dass sie Amerika nannten. Wir nennen es Reve Praigrat, der verlorene Traum. Durch Kernwaffen wurde es unbewohnbar. Die Überlebenden flohen auf die anderen Kontinente. Die Dichte an Menschen dort wurde ausgenutzt um noch mehr Schaden anzurichten.

Die sogenannten X-Bomben, nuklear und grausam.

Der Tyrann wurde ausgeschaltet. Er starb an seinem eigenen Gift. Die Menschheit rückte auf dem verbleibenden Land zusammen, beschloss den absoluten Frieden und gründete einen neuen Staat - Mier.
Man teilte Mier in 30 Areale auf und diese Areale noch einmal in Siedlungen - Megastädte, die sich über hunderte Kilometer erstrecken.
Selia und ich leben am Rand der 23. Siedlung von Areal 21, Spitzname "Misa aditur", die grüne Schüssel.
Ganz in der Nähe unseres Blocks befand sich der Zaun, der die Siedlung von dem Rohstoffanbau - den Farmen - trennte. Für gewöhnlich war es den Siedlern nicht gestattet dieses Gebiet zu betreten, aber einst hatte ich ein Loch im Zaun gefunden und war, neugierig wie ich bin, natürlich sofort hindurch geklettert. Weil man uns nie entdeckt hatte, kamen Selia und ich immer öfter her und verbrachten die meiste Zeit damit unter den Wurzeln eines Baumes, in der Nähe der Grenze, zu spielen. Es wurde zu unserem Geheimversteck. Hier war man ungestört und - anders als in der Siedlung, konnte man sich frei bewegen. Auch jetzt saßen wir dort, unter den Wurzeln, waren nun erwachsen und bereit für die Selektion. Wir hatten uns geschworen den Brief gemeinsam zu öffnen und diesen Schwur lösten wir jetzt ein.

Ich atmete tief durch, musterte meinen Brief abermals, fuhr mit den Fingern an den Seiten entlang.
„Ich will ihn nicht aufmachen, Liz", hörte ich Selias zittrige Stimme leise sagen, „ich will nicht wissen was drin steht."
„Ich auch nicht", meine Stimme war nicht mehr als ein Wispern.
„Du wirst bestimmt genehmigt, du hast dich voll viel engagiert", versuchte mich Selia aufzuheitern.

Es gab zwei Dinge die in diesen Briefen stehen konnten. Entweder „genehmigt", oder „nicht genehmigt". Was exakt die Auswahlkriterien waren, wusste niemand. Manche sagten, es hinge vom jeweiligen Betragen ab, andere meinten man prüft wie intelligent jemand ist. Einige behaupteten sogar, es sei reiner Zufall.
Jedoch, egal was man ist, genehmigt oder nicht, nach 3 Tagen, am 1. Juni, würde man in Siedlung eins gebracht werden. Die Selektionssiedlung. Jedes Areal hatte eine. Dort wurden die nicht Genehmigten geprüft. Sie werden durch Zufall einem Genehmigten zugeteilt, für den sie Arbeiten müssen. Der Genehmigte war der Prüfer und konnte für ein Jahr über den nicht Genehmigten verfügen wie er wollte. Am Ende des Jahres wurde entschieden ob man nun würdig war, oder nicht. Dann wurde man einer bestimmten Siedlung zugeteilt, in der man dann in Ruhe leben konnte - oder man starb.

Wie genau alles ablief und entschieden wurde konnte auch niemand sagen, der sich bereits als würdig erwiesen hatte, aber niemand stellte Fragen. Es funktionierte, das war das was zählt und deshalb würde auch ich keine weiteren Fragen stellen. Auch ich würde es, wie alle anderen, einfach so hin nehmen. Man hatte ja auch nicht wirklich eine andere Wahl.

„Ich weiß nicht", hauchte ich und tausende von Zweifeln überfluteten mich. Hatte ich wirklich alles richtig gemacht? Vielleicht hatte doch jemand mit bekommen, dass Selia und ich und regelmäßig in verbotenes Terrain begaben? Wäre das ein Grund für einen „nicht Genehmigt" Stempel? Das würde heißen, dass ich schuld daran wäre, wenn Selia nicht genehmigt werden würde. Das würde ich mir nie verzeihen können.

„Selia", quietschte ich. Man konnte mir anhören das ich kurz vor einem Nervenzusammenbruch stand. In meinem Kopf drehte sich alles und eine starke Übelkeit überkam mich.
Ich spürte, dass sich zwei Arme um mich schlangen und zuckte unwillkürlich zusammen.
Als ich erkannte, dass es meine Freundin war, erwiderte ich die Umarmung. Sie hatte ein Talent dafür mich zu beruhigen. Wenn sie da war würde alles gut sein.
„Hey, beruhige dich Lizzy", flüsterte sie in mein Ohr, „lass uns einfach auf machen, wir werden nicht sterben und wir bleiben zusammen, Okay?"
Ich nickte langsam. Hängte mich an ihre Worte.
Zögernd ließ Selia sich wieder zurück fallen, lächelte mir kurz aufmunternd zu und heftete ihre Augen dann wieder auf den unheilvollen Brief.

„Auf drei?", fragte ich zögernd und wandte meine Augen ebenfalls von ihr ab.

„Auf drei."

Ich krallte meine Fingernägel unter den Verschluss.

„Eins, Zwei..."

Das Geräusch von reißendem Papier. Der Brief war offen und meine Zukunft lag vor mir. Mit unruhiger Hand zog ich das gelbliche Pergamentblatt aus dem Umschlag. Ich traute mich nicht es auf zu falten.
Ich sah zu Selia auf. Sie las den Brief. Ihre Miene verriet nichts.

Ehrfürchtig fuhr ich mit den Fingern zu den Ecken, wo der Brief gefaltet war. Gerade als ich es aufschlagen wollten hörte ich wie Selia auflachte und hielt in meiner Bewegung Inne.

„Genehmigt!", jubelte sie und grinste mich an. Eine Welle des Glücks durchfuhr meinen Körper. Sie hatte es schon geschafft! Das war das wichtigste.
„Wenn selbst ich genehmigt bin, hast du es sicher geschafft!", grinste sie und forderte mich auf meinen Brief endlich zu lesen. Ich atmete noch einmal durch und tat dann was sie wollte. Rasch überflogen meine Augen die Daten und blieben schließlich an dem Stempelabdrück hängen, der mein Herz zum Stillstand brachte:

NICHT GENEHMIGT

Die SelektionWo Geschichten leben. Entdecke jetzt