Kapitel 23

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Mein Herz blieb für einen Augenblick stehen. Ich war so mit mir selbst, Selia und den Streichern beschäftigt gewesen, dass ich gar nicht mitbekommen hatte, wie sich die Welt außerhalb meiner Gedanken weiter drehte.
Das schon selektiert wurde bedeutete aber, dass ich mich bei den letzten Selektionstreffen richtig verhalten hatte. Oder zumindest nicht ganz falsch.
Falls das überhaupt eine Rolle spielt.

Mit einem weiteren Schock, der wie ein Blitz durch meine Brust jagte, sah ich zu John auf.
"Was ist mit-"
"Daz geht es gut. Keine Sorge", sagte John sanft, hatte meine Gedanken schon entschlüsselt, bevor ich überhaupt anfangen konnte zu reden. Er kannte mich wirklich gut. Wohl fast so gut wie Selia mich kannte. Oder gekannt hatte.
Ich steckte das Feuerzeug, mit denen ich die Kerzen entzündet hatte, zurück in die Schublade, aus der ich es genommen hatte. Der Kerzenschein erhellte den Laden nur spärlich, aber ausreichend. Das warme Licht der kleinen Flammen warf Schatten in Johns Gesicht, welche die Falten auf seiner nachdenklichen, sorgenvollen Miene tiefer in sein Gesicht gruben. Er hatte so mehr was von einem alten Mann, als von einem 18 Jährigen.

"Was passiert dann mit den Genehmigten, deren Ungenehmigte selektiert wurden?", fragte ich, "werden sie schon in andere Siedlungen versetzt?"

John zuckte mit den Schultern.
"Ich habe Verschiedenes gehört", sagte er, "ein paar habe ich nachdem ihr Ungenehmigter fort war nicht mehr gesehen. Sie müssen wohl weggebracht worden sein. Eine Arbeitskollegin hat mir erzählt das sie einen Bekannten zum Bahnhof begleitet hatte, als er abreisen konnte. Allerdings habe ich auch schon ein paar andere getroffen, die keinen Genehmigten mehr hatten, aber noch allein hier leben müssen. Vielleicht wegen drohendem Arbeitskräftemagel, oder so. Ich habe auch gehört, dass sich andere einen Ungenehmigten teilen müssen und jetzt zu zweit für einen zuständig sind. Es ist sicher genauso verwirrend und unklar wie das ganze Selektionssystem an sich."

"Warum erklärt man uns nicht wenigstens hier wie es abläuft? Was hat das ganze damit zutun, wie man sich verhalten muss?"

"Naja, vielleicht gehört es auch zum System", John setzte sich auf den Kassentresen, "oder es ist einfach nicht wichtig. Ist ansich auch egal, was mit den Genehmigten passiert. Mir tun eher deren Partner leid, die nicht mal ihr letztes Jahr zuende leben konnten."

"Du hast Recht."
Ich setzte mich neben ihn. Ich sah zu den Fenstern, hinter denen man kaum etwas erkennen konnte, da sich das Licht innerhalb des Raumes in den Scheiben spiegelte. Alles was ich sah war das dunkele Blau der Nacht und den weißen Schnee, der sich mit dem Wind bis an das Glas gekämpft hatte.
Das gefrorene Wasser schien alle Geräusche zu schlucken. Es lag eine bedrückende Stille im Raum. Ich spürte Johns Körperwärme deutlich neben mir. Vorsichtig legte ich meinen Kopf auf seine Schulter, suchte etwas halt im kreisenden Strudel meiner Sorgen und Gedanken.
Er gab ihn mir, indem er einen Arm um mich legte.

"Ich möchte nicht, dass Dasriel stirbt", murmelte John nach einer Weile düster in die Stille, "Oder du... Das alles hier ist doch Mumpitz. Was bringt es einem überhaupt hier zu überleben, wenn man seine Liebsten zurück lassen muss?"

"Man würde neue kennenlernen", sagte ich.
Auch mir missfiel es, dass man alles zurück lassen musste, auch wenn ich versuchte es positiv zu sehen. Wobei - Wozu eigentlich? Vermutlich war das ganze auch nur eine weitere Lüge des Regimes. Woran lag das Problem wieder zu seiner Familie zu ziehen? Selbst zu entscheiden mit wem man zusammen leben wollte? Es war logisch, dass man sich nicht aussuchen konnte in welche Siedlung man geschickt wurde. Schließlich würden dann alle nur die schönsten wählen, wie Siedlung 4, die auf Grund ihrer fruchtbaren Böden besseres Essen und mehr Wohlstand zur Verfügung hatte. Oder Siedlung 30 mit ihren atemberaubenden Landschaften und Architekturen. Ich hatte Bilder und Geschichten darüber in Büchern gefunden. Das Regime achtete zwar auf gerechte Verteilung, allerdings konnte man nicht vermeiden, dass manche Siedlungen einen geografischen Vorteil aufwiesen und andere nicht.
Manche Siedlungen würden überfüllt und andere fast leer bleiben. Aber wieso nicht zurück in die Siedlung der Eltern? Ich hatte schon vergessen, wie ich es mir früher erklärt hatte. Es hatte keine Bedeutung mehr. Ich würde mich sowieso bald den Streichern anschließen und von hier verschwinden.

Die SelektionWo Geschichten leben. Entdecke jetzt