Tick. Tack. Tick. Tack. Ich starrte auf die kleinen Metallkugeln des Newton-Pendels, die unaufhörlich gegeneinander schlugen.Tick. Tack. Tick. Tack. Ich befand mich im nächsten Raum des Selektionstreffens. Raum 42, in den mich Dr. Nima geschickt hatte. Tick. Tack. Tick. Der Raum war, wie alle Räume in diesem Gebäude, schlicht gehalten: Weiße Wände, keine Fenster - Mir gegenüber saß ein älterer Mann mit Ziegenbart an einem dunkelen Ebenholzschreibtisch, der bestimmt noch von vor unserer Zeit stammte. Tick. Tack. - Der Schreibtisch natürlich. Nicht der Mann.
Auf dem Schreibtisch befand sich ein Newton-Pendel. Ich kannte es aus dem Büro meines ehemaligen Direktors. Unaufhörlich schwenkte an einer Seite eine Kugel nach oben, kollabierte mit einem Tick. mit der Kugelreihe, gab die Energie weiter und ließ auf der anderen Seite die nächste Kugel nach oben schnellen. Diese fiel wiederum mit einem Tack. zurück auf die Anderen und wiederholte so das ganze Spiel. Tick. Tack. Tick- "Elisabeth."
Die tiefe Stimme des Mannes, der sich als Dr. Gorn vorgestellt hatte, ließ mich aufschauen. Seine ernste Miene verzog sich zu einem warmen Lächeln. Richtig. Ich war hier, um seine Fragen zu beantworten, nicht um- Tick. Tack. Tick. Tack. Ich zwang mich, das physikalische Gimmick nicht weiter zu beachten. Ich erwiederte schwach Dr. Gorn's Lächeln. Dieser stützte seine Arme auf der Tischplatte ab und beugte sich ein wenig zu mir herüber.
"Also, Elisabeth", sagte er, "Erzähl mir ein bisschen. Wie ergeht es dir hier? Wie ist deine Patnerin?"
Ich schwieg. Das war vermutlich nicht das schlauste, aber ich wusste nicht, was ich antworten sollte. Einerseits wusste ich, dass ich die Wahrheit sagen musste, aber andererseits war Selia trotz allem noch meine beste Freundin und ich wollte sie nicht so hintergehen. Wobei ihr nichts passieren konnte, fühlte ich mich dennoch schlecht, so über sie zu reden. Das mit Dr. Nima war eine Ausnahme gewesen, bei Dr. Gorn ging es genau um- Tick. Tack. Tick. Tack. Penetrant brannte sich das Geräusch in meinen Kopf ein und hielt mich vom Denken ab. Ja, es war sogar so penetrant, dass ich schwören könnte, es würde lauter werden. Mein Blick legte sich wieder auf das Pendel. Tick. Tack. Tick. Tack.
"Elisabeth?"
Etwas Ungeduld lag jetzt in Gorns Stimme, nur diskret, aber vorhanden. Ich sah ihn wieder an. "E-entschuldigung", nuschelte ich und beschloss dann ihm einfach zu sagen, was passierte. Er hatte wahrscheinlich sowieso Selias Wochenberichte vorliegen und wusste was Sache war. Lügen war also ohnehin Sinnlos. "Also", begann ich, "ich..."- Tick. Tack. Tick. Tack. Dieses verdammte Ticken warf mich völlig aus der Bahn! Merkte Dr. Gorn das nicht, oder wollte er etwa genau das erreichen? Gehörte das zum Test? Ich wiederstand dem Drang, das Pendel anzuhalten.
"Du...?", versuchte mein Gegenüber mir weiter zu helfen und strich sich die dunkelen aber grau durchsträhnten Haare nach hinten, wärend er mich anstarrte und auf eine Antwort wartete.
"A-am Anfang war alles bestens", sagte ich wärend ich verzweifelt versuchte das unaufhörliche Tick. Tack. Tick. so gut es ging auszublenden. Ich erinnerte mich daran, dass Selia und ich am Anfang ausgemacht hatten, niemandem zu erzählen, dass wir uns schon vorher kannten und obwohl ich dieses Versprechen schon gebrochen hatte, so würde ich es jetzt, wo es ernst wurde, doch einhalten.
"Und dannach?"
Gorn zog einen Block zu sich, um Notizen machen zu können.
"Danach wurde es schlimmer."
Tick. Tack. Tick. Tack.
"In wie fern schlimmer?"
"Sie-" Tick. Tack. Ich atmete durch. Würde es Minuspunkte geben, wenn ich ihn bat das Ding anzuhalten? "Sie begann mich mehr zu kontrollieren, gab mir weniger Essen und Freiraum, schickte mich allein auf die Arbeit..."
"Ihr Arbeitet im Laden, nicht wahr?"
Ich nickte. Er sah in seine Unterlagen und machte sich ein paar weitere Notizen, bevor er mich wieder ansah.
"Hat sie dich geschlagen?"
Meine Finger krampften sich bei der Frage zusammen. Ja, sie hatte, aber wollte ich ihn das wirklich wissen lassen? Es sprach absolut gegen den Frieden jemanden zu schlagen und- Tick. Tack. Ich spürte das kribbelnde Verlangen in meinen Fingerspitzen, dieses Teufelszeug gegen die nächste Wand zu schmettern. Blieb es denn niemals stehen!?
Verkrampft sah ich auf meinen Schoß, versuchte mich zu beruhigen.
"Ich nehme das mal als ja", gab sich Gorn selbst die Antwort auf seine Frage. Erschrocken sah ich ihn an. "Was? Nein!", rief ich, "Ich meine Ja, aber..." Das Ticken in Kombination mit Dr. Gorns leicht süffisanten Gesichtsausdruck ließ mich richtig zornig werden. Ich ließ mich auf dem Stuhl nach hinten sinken, um es mir nicht anmerken zu lassen. Wieso fragte er nicht, ob es mich störte? Ich würde den Bezug meines Verhaltens zu dem Pendel nicht gerade als unoffensichtlich beschreiben. Tick. Tack. Tick. Tack.
"Was soll ich nun aufschreiben?"
"Ja."
"In welchen Situationen und wie hast du reagiert?"
"Ich weiß nicht."
"Du weißt nicht?"
Mir kamen Dr. Nimas Worte wieder in den Sinn. "Du wirst noch verstehen." und "Vertraue dem wirklichen Frieden."
Ich weiß nicht was sie mir wirklich damit sagen wollte, aber vielleicht war genau das der richtige Moment an diesen Worten festzuhalten. Was ich nun brauchte war Frieden. Ich atmete abermals tief durch und sah Gorn erstmals wieder in die grauen Augen. Sie waren herzensgut. Ich hatte die Süffisanz in seiner Stimme fehl interpretiert. Generell war sein gesamtes Exterieur sehr freundlich und strotzte vor Güte. Trotzdem das Tick. Tack. Tick. weiterhin durch den Raum hallte, beruhigte ich mich.
"Entschuldigen Sie?", fragte ich mit einem schüchternen Lächeln auf den Lippen. "Könnte ich das Pendel anhalten?"
Er folgte meiner deutenden Hand und lachte einmal herzlich auf. "Ich dachte schon, du fragst nie", sagte er und stoppte die Metallkugen in der Luft, noch ehe ein weiteres Tack. dem Tick. folgen konnte.
Erleichtert, wegen der Ruhe, aber auch weil Dr. Gorn so freundlich reagiert hatte, atmete ich auf. "Danke", lächelte ich und beantwortete schließlich alle seine Fragen wahrheitsgetreu.
Selia war ein Arschloch geworden.
Ja, ich hatte Leute kennengelernt.
Nein, ich wurde nicht sexuell Missbraucht.
Als Gorn fertig war mit seinen Fragen, stand er auf und reichte mir die Hand.
"Danke für deine Ehrlichkeit. Im Sinne des Friedens. Auf Wiedersehen", sagte er, wärend meine Hand von der seinen beinahe zerdrückt wurde.
"Ja", quetschte ich zwischen meinen Zähenen hervor, "Im Sinne des Friedens. Auf Wiedersehen."
Dann ging ich auf den Flur zurück, lief ein paar Schritte in Richtung Gebäudeausgang und blieb dann wie angewurzelt stehen. Ein ungutes Gefühl überkam mich und mit ihm eine leichte Übelkeit. Ich hatte gerade einer wildfremden Person alle meine Gedanken und Geheimnisse erzählt. Ich hatte ihm alles einfach so preisgegeben, wegen eines netten Lächens. War ich wirklich so leicht zu beeinflussen?
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Die Selektion
Science FictionEine Welt des absoluten Friedens, des Glücks und der Gemeinschaft. Keine Diskriminierung auf Grund von Herkunft, Glauben, Aussehen, Geschlechts, oder Sexualität - und mitten drin: die Selektion. "Wir nutzen Gewalt um den Frieden zu wahren." Jed...