Kapitel 4

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"Alle raus!", rief eine bestimmende Frauenstimme. "Aufgewacht und Mitgelacht, Willkommen in der Selektionssiedlung!" Und tatsächlich: Einige wenige hatten während der Fahrt zu unruhigem aber notwendigem Schlaf gefunden. Die Passagiere erhoben sich und alle marschierten aus dem Wagon. Ich, als eine der letzten. Die frische Luft, die meinen Kopf umströmte war eine Wohltat für meine Lungen und meine Haut.

Ich schaute mich um. Wir standen allein auf weiter Flur. Die Bahn und Menschentrauben, die sich davor bildeten. Der Boden, den ich betrat war eine Kies-Sand-Mischung, die abseits der Gleise mit spärlichen Büschen und Gräsern bewachsen wurde. Alles war beleuchtet von großen Lichtanlagen, die an Windrädern angebracht waren.Dahinter erkannte man die Umrisse der in Dunkelheit gehüllten Stadt. Niemand war hier. Gestern Abend, während überall in Mier auf die Selektierten angestoßen wurde, hat man hier das Selektionsjahr beendet. Die letzten exekutiert und die Überlebenden in die Züge zurück ins Land geschickt.

Ich drehte mich um. Hinter mir stieg Antonie aus. Sie lächelte mich zuversichtlich an. Ich hätte den Zug am liebsten nicht verlassen. Antonie griff meine Hand und zog mich zu sich ran. Vorne begannen drei Bedienstete die Anwesenheit zu kontrollieren. Ein Junge schob sich aus der Reihe und ging geradewegs auf die Frau zu, die sich inzwischen an den Rand gestellt hatte und das Geschehen beobachtete. Ein kurzer Wortwechsel. Nicken. Das Durchzählen ging weiter.
Die bereits abgehakten wurden gebeten weiter nach vorne zu gehen und Platz zu machen für die letzten. Ich schaute nach links und rechts. Vor jedem Wagon das gleiche Bild, über hunderte von Metern. Einzelne Trupps begannen sich in Bewegung zu setzten.

"Name?", riss mich einer der Männer aus meinen Gedanken.
"Novitess, Elisabeth Novitess, Siedlung 23", sagte ich reflexartig.
Der Mann schaute von seiner Liste auf und machte einen grimmigen Gesichtsausdruck. "Woher sonst?", fragte er und schielte an mir vorbei. Auf dem - jetzt völlig leerem - Wagon war eine große 23 angebracht.
"Alles klar, weiter", schubste mich der Mann zu den anderen. Ich sah, wie man auch Antonie registrierte, und dahinter ... Einer der Ordner führte die Blauhaarige ab. Der Junge musste sie verraten haben. Ich war fassungslos.

"Los weiter!", rief jemand hinter mir. Antoine ging an mir vorbei und nahm mich mit einem flinken Handgriff mit. Während des kurzen Weges schnauzte uns der Ordner von hinten an.
"He, ihr da! Händchenhalten ist nicht!" Widerwilllig ließen wir einander los und folgten der Gruppe langsam aber sicher aus dem Kegel der Lichtanlage. Vor uns lag ein betonierter Platz. Er war eingefasst von Bäumen und auf der anderen Seite befand sich ein hohes Gebäude. Alles wurde spärlich beleuchtet.

Ich drehte mich um. Der Zug fuhr langsam aus. Es war einer von vielen Zügen. Hinter uns bogen Grüppchen zu Hunderten den Weg zum Platz ein und vor uns waren schon Dutzende aufgestellt. Beim Umdrehen hatte ich im aufkommenden Gewusel Antonie verloren. Ich drehte hektisch den Kopf, doch ich musste weiter laufen. Ich verfluchte mich. Das Gedränge wurde dichter und ich ordnete mich unter. Von hinten rückten immer neue Massen nach. Ich betrat das Platzinnere. Die Ordner und Bediensteten hatten sich der Menge entzogen und gingen über Treppen auf Holzpodeste, die zwischen die Bäume gesetzt waren.

Ich entdeckte den großen Jungen aus dem Zug neben mir.
"Hast du Antoine gesehen? Die kleine Asiatin?", frage ich aus purer Verzweiflung, doch kurz darauf bereue ich es.
"Schon vorbei mit eurer kleinen Freundschaft?", fragte er, "Ich hatte dich gewarnt."
Erst dachte ich der Große wollte fies sein, Recht haben. Doch er blickte mich freudlich an, legte einen Arm um meine Schulter, lud zu einer Umarmung ein. Ich zögerte. Warum war er jetzt so nett? Im Zug kam er mir wie der letzte Stinkstiefelvor. Doch als ich realisierte das er es nur gut meinte, schmiegte ich mich an ihn. Ich brauchte es und es tat gut. Es gab mir das Gefühl nicht ganz alleine auf dieser Welt zu sein.
"Hey, lass dich nicht hängen. Das ist für niemanden hier leicht.", flüsterte der Riese mir zu.
Einen zähen langen Moment hielt die Umarmung an, dann erlosch die Lichtanlage in der Ferne und eine andere ging an. Wir lösten und voneinander und mit klopfenden Herzen reckte ich wie alle anderen meinen Hals zu dem imposanten Gebäude. Man hatte​ seine Fassade beleuchtet und einen Banner gehisst. Die Flagge Miers, eine weiße Taube auf schwarzem Grund.
In Siedlung 23 wurde nicht oft die Flagge gehisst. Klar, wir sind ja auch kein Volk, keine Nation, wir sind nur die, die den Krieg überlebt haben. Das letzte Land der Erde.

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