Kapitel 22

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Ich dachte genauso lange über das nach was ich gesehen hatte, wie über Joslins Erklärung dafür. Mir gingen sämtliche Szenarien durch den Kopf, was noch passiert sein könnte, aber das was Joslin gesagt hatte blieb das schlüssigste. Es machte Sinn, dass das Regime dem Volk diese Dinge verschwieg. Jetzt blieb nur noch die Frage, was sie uns noch alles verschwiegen.
Die Streicherin hatte mich zuhause abgesetzt. Ich hatte das gemacht, um was Selia mich in ihrer Nachricht "gebeten" hatte und wälste nun unruhig im Bett hin und her. 

Meine Selektionspartnerin war noch immer bei ihren geheimnisvollen Freunden, obwohl die Sonne schon lange hinter dem Horizont verschwunden war, um die toten Länder auf der anderen Seite der Welt zu erhellen.

Ich zog das Amulett, welches John mir geschenkt hatte, aus meiner Hosentasche und drehte es in der Hand. Im fahlen Mondlicht schien es sein eigenes, faszinierendes Licht zu verbreiten. 
Ein "ε" war darin eingraviert. Der Buchstabe stammte aus der Zeit der Weisheit. Er stand für die ersten Zivilisationen, die noch an den Frieden aller Völker glaubten, bevor die Menschen sich in Kriege stürzten.Es wurde uns gesagt, wir stünden in ihrer Tradition.

Doch wie das Amulett im Mond, so sah ich nun auch diese Welt und ihren Frieden in einem anderen Licht.
Natürlich hatte ich schon früher an unserem System gezweifelt. Jeder tat das an irgendeinem Punkt in seinem Leben, doch jeder kam letztlich zu dem selben Schluss wie ich. Wir akzeptieren das System wie es war. Bis auf dem Selektionsjahr und der Einteilung war auch alles soweit transparent. Man sagte uns, wieso man es so machte, wie man es machte und wir akzeptierten es, da es uns stets sinnvoll erschien. Jetzt jedoch kamen die alten Zweifel aus Kindertagen zurück. Welches falsche Spiel wurde hier gespielt?

***

Schon in den ersten Stunden, in denen es vor 2 Wochen angefangen hatte zu schneien fielen die weißen Flocken auf eine Weise, dass man meinte, es hört nie wieder auf. Nur die Sonne, die unbeirrt in den Mittagsstunden schien, begrenzte die weiße Decke auf einige Zentimeter. 
Der Belag knautsche unter meinen Füßen, als ich im fahlen Mondlicht auf dem Weg zum Laden war. Alles was es dort gab, das war mir jetzt klar, konnte auch aus den anderen Siedlungen kommen. Die Welt war erschreckend kompliziert geworden und ich hatte schon manches Mal gedacht, es wäre besser sich nicht damit zu beschäftigen. Aber wohin würde das schon führen? 

Ich war aufmerksam gewesen, die ganzen letzten Wochen. Das letzte Selektionstreffen hatte in einer großen Arena der alten Zeit stattgefunden. In zahlreichen Zelten wurden die Ungenehmigten zusammengewürfelt und mussten in Gruppen Aufgaben lösen. Mir kam der Verdacht, dass man die Gruppen mit Absicht so gestaltet hatte, dass keiner sich kannte. 
Es waren unangenehme und bloßstellende Aufgaben. Es wurde einem unmöglich gemacht, irgendeine Art Gemeinschaftsgefühl oder Teamgeist zu entwickeln. Gleichzeitig, so war die unausgesprochene Vermutung aller, ging es darum, niemanden auszugrenzen und keine Hierarchie entstehen zu lassen - kurzum: Nichts, was irgendwie zum Krieg führen könnte.

Ich hatte mich sogar gewagt die Sache offen zu hinterfragen: 
"Warum sagen sie uns nicht einfach, wie die Selektion funktioniert und was wir machen müssen."

"Sehen sie, junge Dame" hatte der außergewöhnliche alte, weißbärtige Mann gutmütig und ruhig geantwortet: "Wenn wir sagen würden, was wir erwarten, würden es einfach alle erfüllen und wir könnten die guten Menschen nicht von den schlechten trennen. Wir wollen sehen, wer von Natur aus so ist, wie man für den Frieden sein muss."

Ehrfürchtiges Nicken in der Runde. Ich verweigerte mich, den Gedanken anzunehmen.
Stattdessen fiel mir immer mehr auf, wie bedrückend dieses System war.
Ich hinterfragte Mier. Ich hinterfragte den Frieden. Den Staat. Bei uns alles ein Wort.

Im Schatten bewegte sich etwas. Eine Silhouette trat hervor und es war klar, dass wer immer das war, zu mir wollte. In den letzten Tagen hatte ich angefangen meine Erwartungshaltung diesbezüglich zu überdenken. Was wenn es mal kein wohlgesinnter Freund war, der da auf mich wartete? Wenn es nicht, wie immer, Daz war mit seiner neusten Botschaft? Genauso gut könnte mich ein Söldner des Regimes erwarten oder wieder der Vergewaltiger.

Doch für Daz war die Statur zu groß, zu gut gebaut. Zu.. John? Ich beschleunigte unbewusst meine Schritte. Desto näher ich ihm kam, desto sicherer wurde ich mir. John und ich hatten uns vieles erzählt von der Ladung Tinte, die wir hatten. Das Papier hatte schon seine Farbe verloren, so oft war es neu und wieder neu beschrieben. Er hatte mir über seine Kindheit in Siedlung 14 erzählt. David, seine Jugendliebe. Seine Mutter, die der alten Kriegskrankheit zum Opfer gefallen war, die in den Arealen südlich der Seen noch grassierte. Er war in der Gemeintschaft aufgewachsen. Wenn man seinen Erzählungen Glauben schenkte war Siedlung 14 deutlich kleiner, als 23. Sie lag in einer Weite, wie John sie beschrieb. Völlig flaches Land, soweit wie man sehen konnte. Es klang schön, was er schrieb, ich hasste es, das ganze immer wieder löschen zu müssen. Grundlos, wir haben bestimmt genug Tinte.

Ich hatte Johnatan im Gegenzug viele Geschichte aus meiner Kindheit erzählt. Immer mit Selia natürlich, aber das war seit meinem Ausflug mit Joslin nicht mehr so schlimm. Sie konnte ja nichts für das System. Sie wusste ja nichts. Also berichtete ich John von den sanften Hügeln meiner Geburtssiedlung und von den Seen, den Wäldern und Landschaften, die er nicht kannte. 

Ich aber kannte auch die Siedlung nicht, in der er jetzt wohnte. Es waren große Ruinen, Häuser wie Bauklötze, leer, kalt und grau. In den Erdgeschossen die Häuser der Blöcke 1 und 2. Die oberen Stockwerke waren ein Abenteuerspielplatz für die Genehmigten, so schien es. Auch Selia hätte er dort schon gesehen. Dort sitzen sie rum und trinken und spielen und reden. Inzwischen fast jeden Abend. Nicht alle, aber alle, die die Ungenehmigten die Arbeit machen lassen. John sprach über die Genehmigten, als gehöre er selbst nicht dazu. Er arbeitete in der Verwaltung. Musste Aktenberge druchgehen und die Tinte aus den abgeschlossenen Prozessen ziehen. Daz half ihm. Aber immer, wenn sie 2 Stunden in ihrem Kämmerlein saßen verordnete John ihm eine Pause. "Manchmal mache ich trotzdem selber weiter mit der Arbeit.", schrieb er mir vor ein paar Tagen. "Ich fühle mich schlecht, ein Genehmigter zu sein. Und noch schlimmer ist es, dass ich manchmal denke, genau das könnte mir helfen", hatte er mir gestern gebeichtet.

Desto vertrauter er mir wurde, desto mehr er mir erzählte, desto mehr ergriff mich das Verlangen ihm von den Streichern zu erzählen. Von Erik, von Magda, von Joslin. Aber allen hatte ich mein Schweigen versprochen und keiner hatte sich nochmal gemeldet. Auch wenn Erik inzwischen ein klares "Ja" von mir bekommen hätte.

"John?" fragte ich ins Schneegestöber hinein. "John, bist du das?"

"Liz. Schön dich zu sehen.", sagte die Stimme, die ich fast schon wieder vergessen hatte. 
Mein Kopf assozierte Rettung und Geborgenheit. Ich fühlte mich auf eine seltsame Weise sicher.

Wortlos fielen wir uns in die Arme. Erst jetzt fiel mit die Kälte wieder auf. Erst presste sie sich durch die Umarmung an mich, dann überwog seine Körperwärme. Wir lösten uns wortlos.

"Was machtst du hier um die Zeit?" Winter, morgens , Stockdunkel.

John strich sich durch seine schwarzen Haare, in denen sich der Schnee verfing und ihm eine dünne weiße Mütze strickte. Er steckte die Hände in die Taschen. "Nachdem, was ich gestern geschrieben habe..." Er schaute verlegen zur Seite. "Können wir ins trockene gehen?"

"Ja, klar" Geistesgegenwärtig schloss ich auf und machte die Tür hinter uns zu, begann die Kerzen im Laden anzumachen. John zog die nasse Jacke aus und begann fortzufahren:

"Weißt du, ich weiß einfach nicht mehr, ob das alles so richtig ist hier."
Er zog einen Apfel aus der Tasche. "Schau" sagte er.
Die rot glänzende Frucht erinnerte mich an meinen Selbstmordversuch. 
Ich schluckte und drehte mich weg. 

"Ein frischer Apfel." stellte John fest. "Mitten im Winter."
"Wo kommt der her?"

Aus den Siedlungen im Süden. Mit den Zügen.
"Keine Ahnung. Auf Lager?"

Johnatan legte den Kopf schief. Süß
"Mag sein. Kommt dir denn gar nichts komisch vor?" Doch. Alles.

"Nein, nichts." sagte ich. "Außer Seila." Wir mussten beide lachen.

"Schön, dich da zu haben.", sagte ich. "Finde ich auch." , sagte er.
Kurze Stille beherrschte den Raum. Die Wärme der Kerzen breitete sich langsam aus.

"Sie versucht vielleicht nur zu verdrängen, was hier passiert. Vielen geht es so. Es ist hier nicht so leicht, auch nicht für uns. Es wurde schon selektiert."



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