Kapitel 16

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Ich stand schwer atmend an der Hauswand des Mamorbaus, die Augen auf den Ausgang des Gebäudes gegenüber gerichtet. Es war ein bisschen wie nach der Leistungsbekanntgabe in der Schule. Alle tummelten sich auf dem Hof. Viele betrübt und unsicher, manche aber auch stolz und selbstsicher. Immer wieder fanden sich Selektionspaare wieder und erzählten einander was passiert war. Andere Schwarzkleider wurden von ihren Partnern einfach nur aus der Masse raus auf den Heimweg geschleppt. An wieder anderer Stelle bildeten sich Grüppchen von Leuten, die sich von der Arbeit kannten und sich nun wiedersahen.
Und wie einige bereits den Hof verließen, so kehrten immer neue zurück aus den beiden Häusern.

Keine Toten? , fragte ich mich. Nirgends ein Trauernder. Nirgends ein Ordner oder Verantwortlicher, der die Partner über den Verlust aufklärte.
Vielleicht wurde dieses Geschäft auf der andern Seite der Häuser geregelt, dachte ich und ein grauenhaftes Kopfkino drängte sich mir auf.

Ich lenkte mich abermals ab indem ich nach bekannten Gesichtern Ausschau hielt. Ich ging die Massen mehrmals systematisch durch, doch obwohl ich einen guten Standpunkt hatte, fand ich niemanden.

Nach einer Weile wendete ich mich ab und setzte mich in die Nische der Gebäudemauer auf den Boden. Hier im Schatten war es kalt und schmutzig war es sowieso.

Der Herbstwind, der hereinbrach passte zu meinem Inneren. Was hatte ich bloß getan? Meine intimsten Geheimnisse waren jetzt verraten. Längst irgendwo abgeheftet und ins System eingespeist.
Ich dachte an die Dinge die mir gesagt wurden.
"Mach keinen Blödsinn", "Vertraue nur dem guten", "Auf Wiedersehen im Sinne des Friedens"

Auf Wiedersehen? Ich hatte tatsächlich überlebt.

Doch nichts in meinem Kopf wollte fröhlich sein. Alles in mir machte sich Vorwürfe. Ich schloss die Augen und hob den Kopf. Tief ein- und ausatmen.

"Ist das nicht ein bisschen kalt?"

Ich erkannte Johns Stimme schon bevor er eine Silbe vollendet hatte.
Erschöpft sah ich zu ihm. Ich hatte in ersten Moment gedacht, die Frage, sei einer dieser ironisch-lockeren - aber auch irgendwie arroganten - Gesprächsanfänge, den Jungen manchmal verwenden, wenn sie unsicher sind. Und ich war ehrlich überrascht, als mir der großgewachsene Junge eine Jacke reichte und ein besorgtes Gesicht machte.
Müde nahm ich ihm das Kleidungsstück ab.

"Danke", hauchte ich.
"Setz dich.", fügte ich hinzu und merkte noch im selben Moment, dass das wirklich ein bisschen ironisch war, angesichts, der Kälte und des Drecks, in dem ich saß.
Doch John setzte sich kurzentschlossen neben mich.

"Ich wollte eigentlich nur gucken, wie es dir geht...", begann John zu reden, wobei er seinen Blick in die Ferne schweifen ließ.
Das war jetzt aber ein einfallsloser Gesprächsanfang.
"Also, wie geht es dir?"
Am Ende des Satzes drehte er sich wieder zu mir.

"Ganz gut." Diesmal schwebte mein Blick in die Ferne.
"Es ist nicht ganz leicht hier - als Ungenehmigte."
Das war ein bisschen fies, ihm gegenüber, schließlich war er ja nett und konnte nichts für seine Genehmigung.
"Ich hab mich noch gar nicht bedankt, oder?", fuhr ich fort. Ich sah ihn an und wurde bestimmt leicht rot vor Scharm.

"Doch, sicher." Immer wenn ich ihn anguckte wich er in die Ferne ab - es war ein kleines Unterbewusstsseins-Spiel geworden.
"Du hast es mir noch am gleichen Abend hintergerufen."

Ein bisschen fand ich es einfach toll, das er das noch mitbekommen hatte. Aber eigentlich wollte ich mich mit diesem Tag nicht weiter beschäftigen.

Ich ließ mich gegen die Wand sinken und schloss die Augen.

"Wenn du mich braucht, Liz"
John legte sich seine Worte sorgsam zu Recht, das merkte man.
"Ich bin immer für dich da."

Komisch so etwas zu hören, von jemandem, der einen vor einer Vergewaltigung gerettet hat.
"Danke.", sagte ich leise.
"Aber kannst du die Sache von letzter Woche bitte versuchen zu vergessen?"

John sah verdutzt zu mir. Ich löste mich von der Wand und schaute ihn kritisch an. Er musterte sie.
Verdammt, er weiß genau, wie es darunter aussieht.
Ich wollte fast schon fliehen, aber ich beließ es dabei mir die jacke enger umzuziehen.

Jetzt erst schaltete John.
"Ach so meinst du das." John schaute wieder verlegen in die Ferne.
"Keine Sorge. Ich ... naja ... mach mir nicht viel aus nackten Mädchen, wenn du verstehst was ich meine."

Diesmal brauchte ich einen Moment, bis es 'klick' machte. John war also schwul. Das machte es natürlich einfacher.
Mir fiel jedoch keine passende Antwort ein.

John erlöste mich nach ein paar Sekunden betretenen Schweigens.
"Ich muss jetzt wieder gehen. Daz kommt gleich - mein Partner." Ungläubig schaute ich ihn an.
"Ich lass dir was zukommen, oder so. Von ihm. Ich kann nicht so oft weg, das fällt auf. Aber Daz kann ich überall hin schicken. Wo arbeitest du?"
"Ich verkaufe... In dem Laden, in der Nähe wo wir... Also ich..."
John merkte, dass es jetzt unangenehm würde außerdem wusste er bereits, was ich meinte.
"Ach, der Laden. Da ist Daz sowieso fast täglich."
"Ich weiß.", sagte ich um fand sofort, dass es etwas gemein klang.
"Ihr kennt euch? ... Ich meine, versteht ihr euch?"
"Ja" Das konnte man wirklich genau so sagen. Daz und ich verstanden uns.

"Gut, ich muss jetzt los." John stand auf. Ich folgte der Bewegung Instinktiv und gab ihm seine Jacke zurück.
Er nahm mich in den Arm. Körperkontakt war ungewohnt und etwas unbehaglich. Das Letzte, was ich nach der ganzen Sache wollte, war Körperkontakt. Schwul hin oder her.

John schien es sofort zu bemerken und ließ mich los.
"Sorry", nuschelte er und ich nickte nur kurz dankbar. Er warf mir einen letzten freundschaftlichen Blick zu und verschwand dann in der Menge.
Dafür sah ich jetzt Selias pastellvioletten Kopf aus der Masse auftauchen. Nur ein paar Meter trennten sie und John, als sich ihre Wege kreuzten. Meine Partnerin hielt zügig auf den Eingang des Gebäudes zu. Trotzdem schweifte ihr Blick immer wieder suchend durch die Gegend. Dann traf er mich.

"Liz!" Es war ein befehlendes Schreien. Ich kam Selia entgegen.

"Und?" fragte ich. Fast schon hatte ich vergessen, wie gereizt Selia auf mich war. Dass wiederum schien sie leicht aus dem Konzept zu bringen.

"Was, und? Wir gehen jetzt nach Hause. Komm."
Ich war fast schon enttäuscht, aber was hatte ich erwartet? Es ging da weiter, wo es vorher aufgehört hat.

Als wir den Platz langsam verließen, sprach mich Selia doch noch an.
"Hast du auch keinen Scheiß erzählt?"
Den größten Scheiß, den ich hätte erzählen können. Die Wahrheit.
"Nein. Alles gut.", log ich.
"Und du so?" Ich tat einfach Mal so, als ob das ein normales Gespräch wäre. John hatte mir ein bisschen Selbstvertrauen zurück gegeben.
"Geht dich nichts an.", sagte meine Freundin.
"Ach komm schon. Sag!" Ich übertrieb ein wenig, schließlich hatte Selia wirklich was gegen mich und war nicht einfach nur eingeschnappt.
Sie blieb stehen und schaute mir fest in die Augen.
"Wenn ich dir sage, dass es dich nichts angeht, dann hälst du dich da raus, ist das klar? Das geht nur Genehmigte was an." Ein Schauer lief mir über den Rücken und kleinlaut nickte ich. Puff, war das bisschen Selbstvertrauen wieder verschwunden. Überraschend lief Selia weiter. Ich musste ihr hinterher laufen, bis wir zuhause ankamen.

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