Wir saßen auf der Terrasse des Hauses. Der Garten war halb verwildert, in der anderen Hälfte sah man Überreste eines Gemüse- oder vielleicht Erdbeerbeetes. Das Nachbarhaus lag hinter einer Baumreihe verborgen, nur ganz oben gab es ein rundes Fenster, eingebettet in das blau lackierte Holz der Fassade.
"Schmeckt's?"
Auf dem Tisch war ein ganzes Dutzend Töpfe versammelt. Darin Soßen, Kartoffeln, Fleisch. Alles war so üppig, wenn nicht noch üppiger, wie sonst nur bei besonderen Festen in Siedlung 23. Ich hatte mittlerweile die zweite Portion auf meinem Teller, während Selia zurückhaltend blieb.
„Sehr gut.", gab ich zurück. Das hätte ich vielleicht nach dem Hunger zu allem gesagt, aber dieses Essen war wirklich sehr gut. Ich hatte Selia bereits erzählt, wie ausgehungert ich war und wie beschwerlich meine Fahrt in Siedlung 1 war. Auch Antonie kam in meinem Bericht vor. Und der große Junge. Der Rothaarige Kleine und... Ja, und die Blauhaarige. Mir war das Wort „exekutiert" im Hals stecken geblieben, doch Selia, hatte es von meiner bleichen Miene ablesen können.
„Das wird dir nicht passieren. Ganz sicher nicht." hatte Selia mir darauf gesagt.
„Aber..." Ich war ehrlich getroffen. „Es ist so schrecklich."Während ich mir noch in den letzten Tagen und Stunden überlegt hatte, ob und wie viel ich in Zukunft überhaupt noch frei und ungefiltert äußern durfte, sprudelte ich jetzt umso mehr. Alles wollte aus mir raus. Ängste, Sorgen und auch die Hoffnung, die nun natürlich gewaltig zugenommen hatte. Selbst Geschichten, die ich Antonie erzählt habe, bei denen Selia dabei war, wiederholte ich nochmal.
„Wie lief denn eure Ankunft ab?", fragte ich Selia schließlich, nachdem ich den nächsten Bissen geschluckt hatte.
„Also den Teil der Stadt, in dem du warst habe ich nicht gesehen.", begann meine Freundin.
„Wir kamen in Abteile. Je vier Leute. Marlene, Felice und Pelly waren meine Sitznachbarn."
Ich kannte die drei vom Namen her. Sie kamen aus den Nachbarbezirken in Siedlung 23. Marlene war mal auf meinem Geburtstag gewesen, sie war noch schüchterner als ich, doch wir hatten seit Jahren keinen Kontakt mehr.
„Der Zug war modern. Neu, schnell und sauber. Gegen Mittag gab es im Speisewagen Essen und Instruktionen. Man hat uns gesagt, dass wir abends ankommen und unsere Häuser beziehen würden und man hat uns ins Gewissen geredet. Die Selektion muss ihren Zweck erfüllen. Dafür sind Opfer notwendig. Das haben sie immer wieder gesagt."Tränen sickerten in Selias Auge. Ich legte mein Besteck hin und schob meinen Stuhl näher an ihren, so das ich ihre Hand halten konnte. Sie versuchte sich wieder zu fangen. „Was ist dann passiert?" fragte ich.
„Auf dem Weg zurück ins Abteil hat Felice dann gesagt, sie würde sich von den Rednern nicht beeindrucken lassen, sie würde ihren Ungenehmigten sowieso weiterleben lassen. Sie würde alles dafür tun, dass das sinnlose Morden ein Ende habe."
Genau, wie die Blauhaarige, schoss es mir durch den Kopf. Und dann ein weiterer Gedanke: Hatte Selia ähnliche Gedanken? Hätte sie jemand anders als mich sterben lassen?
„Das sei gegen die Regeln und zum Schade aller, hat Pelly dann entgegnet. Ein paar Jungen sind mit eingestiegen in die Diskussion...
Marlene hat dann das Personal geholt. Man hat den Streit geschlichtet und unser Abteil neu vergeben. Felice wollten sie mitnehmen, mich erst auch, weil ich mich für sie eingesetzt hatte und..." Die Zarte, aber klare Stimme meiner Selektionspartnerin überschlug sich unkontrolliert. Gleichzeitig hatte sie die Frage, die mir gekommen war beantwortet.„Ich habe mich rausgeredet, ich wusste es nicht besser."
Zum aller ersten Mal sah ich blanke Hilflosigkeit in den braunen Augen, die mich schon so oft in meinem Leben angesehen hatten. Etwas in mir zweifelte kurz daran, das dieser Streit alles war, was Selia so erschütterte. Doch dann beruhigte ich sie.
„Du hast alles richtig gemacht.", sagte ich. Und dann fügte ich hinzu: „Ich hätte auch so gehandelt." Das war nicht ganz richtig, aber es ging ums Prinzip. Es half nichts, wenn sich meine Freundin unnötig Vorwürfe machte.
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Die Selektion
Science FictionEine Welt des absoluten Friedens, des Glücks und der Gemeinschaft. Keine Diskriminierung auf Grund von Herkunft, Glauben, Aussehen, Geschlechts, oder Sexualität - und mitten drin: die Selektion. "Wir nutzen Gewalt um den Frieden zu wahren." Jed...