Noch nie hatten mich die braunen Augen meiner Selektionspartnerin mit dem Blick getroffen, mit dem sie es jetzt taten. Sie trafen mich kurz und flüchtenden dann, auf der Suche nach einem Ausweg aus der Situation, in der sie steckten. Vergebens. Es war das Selektionsjahr. Es gab keinen Ausweg aus unserer Zweisamkeit. Nie hätte ich gedacht, dass mir einmal der Gedanke kommen würde, es wäre besser Selia eine Weile nicht zu sehen. Nur um meinen Kopf zu sortieren, nur für ein paar Tage. Doch hier war ich auf sie angewiesen, an sie gebunden, egal, was zwischen uns war.
Selbst unsere größten Streitereien hatten Lia und ich immer binnen Stunden verziehen und vergessen. Meist kam sie noch in der Nacht nach einem Streit zu mir - oder ich zu ihr - , weil wir wussten, dass wir ohne einander nicht konnten, dass wir, über kurz oder lang kaputt gehen würden ohne den anderen. Dass wir einander brauchten. Doch das hier war kein Streit. Keine Meinungsverschiedenheit. Das hier war ernst. So ernst, wie noch nie etwas, das zwischen uns gestanden hatte. Selia hatte es wie einen Magneten in ein Meer aus Nägeln gestellt und jetzt begann es alles umzusortieren.
Selia liebte mich. Und ich? Was fühlte ich? Meine beste Freundin, die wichtigste Konstante in meinem Leben, meine Sicherheit, mein rettendes Ufer war plötzlich, jemand von dem ich nicht mehr wirklich wusste, wer er war.
Wer sie für mich war. Nach minutenfressenden hilflosen Gedankengängen hatte ich beschlossen, dass Selia mir wichtig ist. So wichtig, wie schon vorher, mindestens. Und vielleicht auch mehr. Vielleicht bewunderte ich sie, vielleicht liebte ich sie. Ich hatte so viel mit ihr durchgemacht, dass mir Liebe kurzzeitig nur vorkam wie ein weiterer Schritt unserer Beziehung - ein Begriff, der nun einen komischen Beigeschmack hatte.
Ich hatte auch probiert, ob ich sauer sein könnte auf die Ältere, doch das funktionierte nicht. Überhaupt funktionierte keiner der Gedanken so ganz. Ich gab irgendwann auf. Stunden waren verstrichen. Ich hatte sie weder kommen noch gehen sehen. Dann schloss ich das Badezimmer auf.Nun sah ich also meine Verehrerin da sitzen. Am Tisch. Tränen hatten ihre Wangen durchzogen, waren verstreut in ihrem Gesicht getrocknet und ihre Augen waren müde, der Blick leer. Regungslos saß sie da, wie ein Haufen Elend und mir wurde klar, dass ich mir nichts gutes tat, wenn ich sie anstarte. Ihr Äußeres warf in mir die Nachdenkkreisläufe wieder an, die ich mühsam zum Stillstand gebracht hatte. Sie sah wunderschön aus. Ich liebte sie. Ich wollte alles dafür tun, dass es wieder so schön ist, wie zuvor. Ich wollte die Liebe nicht unausgesprochen machen, aber ich wollte sie erwidern, bevor sie mich erschlug. Zu spät.
"Ich nehm es dir nicht böse.", flüsterte ich in die Stille, die ich durch den Lärm meiner Gedanken gar nicht bemerkt hatte. "Es braucht dir nicht leid zu tun."
Wir schauten einander nicht an. Sie blickte in den Flur. Ich nach draußen, in den Mondschein.
"Magst du reden?", fragte Selia. Sie drehte sich zu mir, folgte meinem Blick. "Draußen?"
Ich nickte geistesabwesend. Wir zogen uns was über und traten in den kalten Garten. Ich versuchte die Vollmondscheibe zu fokusieren und das mich aufwühlende Mädchen neben mir nicht anzusehen. Zu frisch waren die Gefühle, zu ungefiltert würden sie mich erreichen.
"Es war im Sommer nach der Jahrhundertwende." Meine - Freundin? - hatte den Blick genau da, wo ich ihn auch hatte, das spürte ich. "Wir hatten gerade unseren Weiher entdeckt, erinnerst du dich?" Und ob. Der kleine See hinter den alten Gleishallen war neben dem unterhölten Baum unser Lieblingsplatz im Sommer. Wir waren dort schwimmen, haben das kühle Nass genossen und lagen stundenlang im Gras. Wir haben dort viel geredet und die Bedeutsamkeiten und Unbedeutsamkeiten des Lebens entdeckt. In lauen Sommernächten haben wir sogar am Weiher übernachtet und immer, wenn der Alltag uns gejagt hatte, versteckten wir uns dort vor ihm. Die Zeit als wir ihn entdeckten scheint ewig her zu sein, so viel wie sich seit dem geändert hat. Wir schworen uns damals zum ersten Mal, für immer Freunde zu sein.
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Die Selektion
Science FictionEine Welt des absoluten Friedens, des Glücks und der Gemeinschaft. Keine Diskriminierung auf Grund von Herkunft, Glauben, Aussehen, Geschlechts, oder Sexualität - und mitten drin: die Selektion. "Wir nutzen Gewalt um den Frieden zu wahren." Jed...