Kapitel 27

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"Willkommen, liebe Selektionsteilnehmer", schallte die Stimme des alten weißbärtigen Mannes über Lautsprecher durch die Reihen.

Alle trugen dicke Jacken, die extra vor ein paar Tagen verteilt worden waren. Der Winter war jetzt auf seinem Höhepunkt. Die Tage waren dunkel und kurz, die Temperaturen tief und die Landschaft weiß.

"Mein Name ist Trinidad Salem." Einer der wenigen Offiziellen, der sich namentlich vorstellte. Es war der selbe wohlwollend anmutende alte Mann, den ich beim letzten Selektionstreffen getroffen hatte. Er hatte eine verbindliche und zugleich vertrauliche Art zu sprechen.

"Wie ihr wisst, ist dies das winterliche Selektionstreffen und damit das letzte, zu dem alle Ungenehmigten zusammenkommen. Oder wie ich sie lieber nenne..." Er lächelte breit und gutmütig. "Die, die eine Chance bekommen, sich zu beweisen." Ja, ne. Ist klar.

"Wie immer kommen viele Fragen auf im Laufe des Selektionsjahres. Und wie immer sind wir bereit alle Antworten zu geben. Alle zu ihrer Zeit, versteht sich." Kurze Pause. Alle schauten sich um. Das gesagte schien keiner richtig einordnen zu können.

"In unserem Alltag..." Er zögerte etwas. "In eurem Alltag geht es zum Glück nicht mehr ums nackte Überleben. Aber ihr alle wisst, dass wir hart arbeiten müssen um uns diesen Frieden zu ermöglichen. Ihr seid nun alle keine Kinder mehr. Ihr lernt nun, was es heißt zu leben. Und für Essen zu sorgen und Kleidung. Seht euch um! Es ist kalt und ihr lernt Feuer zu machen. Mit Wärme zu haushalten. Doch es geht im Frieden um mehr. Viele von euch lernen nun auch, was es heißt von jemandem abhängig zu sein. Viele von euch lernen, den Respekt zu wahren und das Gefühl für den anderen auch verantwortlich zu sein. Denn die wichtigste Regel ist: Du bist nicht allein; Achte auf den Anderen. Lebe mit Rücksicht auf alle und wahre den Frieden!"

Ich merke wie mich die weiche und kratzige Erzählstimme von Trinidad in seinen Bann zog.
Nicht gut. Jetzt nicht einknicken. Doch ganz objektiv war erstmal nichts falsch an dem was er sagte. Er lies nur aus, dass manche eben auch Qualen litten unter ihren Partnern und eigentlich alle ungeklärte Fragen hatten.

"Weil wir in harten Zeiten leben, ist im Alltag nicht immer Platz für Fragen. Es Bedarf viel Gefühl und Besonnenheit in den wichtigen Dingen zu walten, die dieses Jahr für euch anstehen."
Eine nette Art zu sagen 'Wir grübeln echt lange, wen wir umbringen sollen'.
"Außerdem gibt es auf manche Fragen keine Antworten, und auf wieder andere können keine gegeben werden, weil es dem Prinzip widerspräche. Ein Prinzip, dass ebenso trist und bitter ist, wie notwendig: Wenn in den Zeiten vor dem Frieden die Ressourcen knapp wurden, dann schlachteten sich die Menschen gegenseitig ab. Sie kämpften um Wasser, gute Häfen, fruchtbares Land; und manche kämpften so erbittert und lange, dass am Ende nur noch verbrannte Erde übrig blieb, von der der Sieger auch nichts mehr hatte. Es mussten so viel mehr Menschen sterben, als notwendig gewesen wäre. Und sie mussten willkürlicher sterben, als wir es heute tun. Sie wurden ausgewählt zu sterben, weil sie eine andere Hautfarbe hatten, weil sie einem bestimmten Beruf nachgingen, weil sie die falschen Menschen in ihr Herz schlossen, weil sie den falschen Göttern huldigten und manchmal einfach nur, weil sie aus einer anderen Region kamen, als die angestammte Bevölkerung."
Er machte eine bedeutsame Pause. Stille herrschte auf dem großen Feld, auf dem wir standen. Es hatte zu schneien aufgehört. Die Sonne stand halbhoch über einem Kuppelbau hinter dem Podest von Trinidad. "Nichts davon wird euch heute zum Nachteil sein. Nichts davon zählt in Mier. Und das ist eine große Errungenschaft. Das ist der Frieden, den wir schützen."

"Nur hat der Mensch so sehr geplündert und gewütet, dass ihn der Boden selbst, auf dem er lebte, vielerorts verstoßen hat. Wir zogen durch die Lande und bemerkten eines schnell als wir uns niederließen: Nun waren die Ressourcen wieder knapp. Knapper vielleicht als je zuvor. Und es würde nicht reichen, die erste Nachkriegsgeneration durchzubringen. Also mussten wir weise überlegen. Und eine Möglichkeit finden, unseren Kindern eine Zukunft zu schenken." Desto mehr ich zuhörte, desto mehr meinte ich, er hätte nicht nur seine vielleicht 70 oder 80 Lebensjahre, sondern auch noch die restlichen 200 Jahre Weltgeschichte davor miterlebt.

"In den ersten paar Jahren von Mier mussten alle Ungenehmigten ihr Opfer bringen. Über die Jahre besserte sich das Klima und wir wurden besser darin, die Rohstoffe zu nutzen, ohne die Erde auszuschlachten. Wir kamen wieder zusammen und wählten einen Prozess, der Selektion um zu entscheiden, wer eine weitere Chance bekommen sollte. Es soll allein danach gehen, wie gut sich jemand dem Frieden unterordnen kann. Es soll niemand mehr diskriminiert werden. Es soll sich jeder beweisen dürfen." Nachdem er während seiner langen Erzählung mit dem Blick in die weiten des Himmels abgedriftet war, schaute er jetzt in Gesichter der Ungenehmigten. Sollen wir jetzt etwa dankbar sein?

"Nun gut. Ihr wollt es also hören. Wir wählen aus, wer von euch sterben wird und wer nicht."

Seine Worte klangen trotzig, aber bestimmt. Wie leiser Donner in der Ferne rauschten sie durch die kalte Luft. Es laut und deutlich ausgesprochen zu hören, war seltsam auf allen Ebenen. Aber auch eindeutig. Unverrückbar stand jetzt diese Wahrheit in der Welt, als sei sie Teil der Ruinenstadt, inmitten der wir uns befanden.

"Und, hat das etwas verändert?", fragte er, als bereue er es selbst, es gesagt zu haben.
"Was sollen wir denn tun? Jedem ein Messer geben und schauen, wer übrig bleibt? Einen Wettkampf veranstalten? Wir könnten, die Lebensbedingungen aller wieder dramatisch verschlechtern, um das Leben weniger zu retten. Aber für alle reicht schlicht das Essen nicht."

Ich spürte Wut in mir aufsteigen. Etwas in mir will laut schreien 'Das stimmt doch nicht!'.
Doch ich bleibe stumm. Trinidad sah ratlos aus. Als sei er überwältigt von seinen eigenen Worten.

"Wenn wir stark bleiben...", begann er dann leise und gebrochen: "Dann können eure Kinder vielleicht wieder ohne Einschränkung leben." Das Mikrophon brach ab. Es rauschte unangenehm.

Ich konnte mir ein kleines Seufzen nicht verkneifen. Vielleicht glaubte er ja doch an das was er sagte. Er sprach seine eigene Wahrheit. Jeder tat das. Es gibt kein Richtig oder Falsch.
Trinidad räusperte sich in die unangenehme Stille hinein.
"Nun denn", sagte er, "aber das wisst ihr ja. Ihr seid heute hier, um eben dies zu tun. Beim letzten Treffen habt ihr euch in zugeoordneten Gruppenaufgaben beweisen müssen und die meisten von euch haben das Prinzip dahinter verstanden und sich gut angepasst. Für die die es nicht getan haben, möchten wir an dieser Stelle eine Schweigeminute einlegen und unseren Tribut zollen."
Mir kam die Galle hoch.
Während Trinidad bedacht seine Hände faltete und gen Himmel sah, wandte ich meinen Blick von ihm ab.
Ich sah in den Gesichtern der Anderen, dass sie weinen wollten. Schreien. Fluchen. Schimpfen. Doch keiner traute sich die Stille zu brechen. Wohl aus Respekt zu den Toten, als auch aus Respekt zu den bewaffneten Ordnern um uns zu gleichen Maßen.
Auch ich blieb still.
Ich dachte nicht an die Toten. Das tat ich so schon oft genug. Stattdessen nutzte ich die Zeit um meinen Geist frei zu machen. Ich überlegte wie ich nun vor gehen sollte, ließ das Vernommene sinken.

Nach einer Zeit, von der ich nicht sicher sagen könnte, ob es wirklich eine ganze Minute gewesen war, ließ mich Trinidads Atem, der aus dem knackenden Lautsprecher drang, aufschauen.

"Vielen Dank für eure Anteilnahme. Wir beginnen nun mit den Aufgaben. Findet euch bitte in fünfer Gruppen zusammen. Dieses Mal ist es nicht vorbestimmt mit wem ihr zusammen arbeitet."

In meinen Augen leuchtete ein Hoffnungsfunken auf.
Dieses Mal war es also egal mit wem wir uns zusammen taten?
Sofort sah ich mich nach bekannten Gesichtern um. Wie schön es wäre, wenn ich mit Daz, Erik, Antonie, oder sonst jemandem arbeiten konnte, den ich hier kennen gelernt hatte. Wir hätten endlich mal wieder etwas Zeit für uns. Zwischen den ganzen wuselnden Menschen sah ich Daz. Scheinbar hatte ich an diesem Tag Glück, denn ich hatte eigentlich nicht damit gerechnet in diesem Gewusel aus Schwarzgekleideten überhaupt irgendwas zu erkennen.
Doch noch während ich auf den Rotschopf zu ging, den ich überall wieder erkennen würde, wurde mir klar, dass ich hier vielleicht einen Fehler machen könnte.

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⏰ Letzte Aktualisierung: Nov 18, 2019 ⏰

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