Ich lag da, in dem weichen Bett und starrte die Decke an. Die Schatten der Nacht spielten auf ihr, überschlugen sich, verdeckten das fahle Mondlicht, welches durch die Fenster sickerte. Jedes mal wenn meine Tränen getrocknet waren, rollten schon Neue schwer wie Blei über meine Wangen. Neben mir hörte ich Selias ruhiges Atmen. Sie schlief, wie ein unschuldiges Kind, dass sich keine Sorgen um die Welt machen brauchte.In meinem Kopf hingegen tobte ein Sturm, schlimmer als je zuvor, zerstörerisch und wild. Er braute alle Zweifel und Sorgen, die mich in meinem Leben je heimgesucht hatten wieder auf, wofür ich mich verfluchte. Als hätte ich nicht schon genug Sorgen, musste der Schnee von Gestern wieder erweckt werden.Meine Gedanken wanderten zu meiner Familie. Ich fragte mich, wie es meinen Eltern und meinem kleinen Bruder wohl ergehen mochte. Was sie dachten? Ob sie ihren Alltag einfach weiter leben würden? Plötzlich tat sie mir sehr weh, diese Gewissheit, sie nie wieder sehen zu können. Dass das System uns einfach von einander trennte war plötzlich unbegreiflich für mich. Mama hatte mir oft von ihren Eltern erzählt. Sie hatten gefeiert, als Mama ihren Selektionsbrief bekommen hatte und hielten auch nach dem Jahr stets den Kontakt zueinander aufrecht. Sie schrieben miteinander - Bis vor zwei Jahren der Brief kam, dass mein Opa verstorben war. Meine Mutter war tagelang verzweifelt und auch meine Stimmung verschlechterte sich, obwohl ich meinen Großvater nie kennen lernen durfte. Meine Mutter war sauer auf mich gewesen, dass ich "mich so anstellen würde". Ich hatte sie damals schon nicht verstanden und ich tat es auch heute nicht. Wieso verbot man einem Kind die Tränen? Kann man nicht auch traurig über einen Verlust sein, wenn man nicht selbst betroffen ist?Mein Opa muss noch den Krieg gekannt haben. Er muss zu denen gehört haben, die wir heute die „Gründerväter" nennen. Wir widmen ihnen das Winterfest, dass wir jedes Jahr feiern, wenn der Schnee Einzug hält. Tatsächlich haben wir keinen Gründer. Keine Denkmäler. Keine berühmten Namen. Einen Neuanfang wollte man wagen, hier in Mier, dem letzten bewohnbaren Stück Land. Man verzichtete damals auf das, was zu Kriegen führte und begann die Dinge zu tun, die den Frieden wahren würden. Die Menschen wollten Ruhe und Sicherheit. Sie eigneten sich eine neue Sprache an, aber sie behielten, was sie glücklich machte. Nur so haben es die Bilder, die Lieder und so manch alte Legende durch den Krieg geschaft.Ein noch früheres Bild schlich sich vor mein inneres Auge:Ich war neun, als ich mit Tycho auf dem Schoß in unserer Küche saß. Unser kleines Küchenradio spielte scheppernd ein paar Lieder und meine Eltern standen vor uns. Sie beachteten uns nicht wirklich, sie hatten nur Augen für sich gehabt. Ungeschickt bewegten sie sich zu der Musik, peinlich berührt entschuldigte sich mein Vater bei meiner Mutter, wenn er ihr versehentlich auf den Fuß trat. Doch meine Mutter lachte jedes mal nur, drehte sich unter seiner Hand und trat auch ihm unbeabsichtigt auf die Füße. Während sie eng umschlungen dahin torkelten, erkannte ich die wahre und ehrliche Liebe zwischen ihnen und beschloss in diesem Moment Musikerin zu werden, um diese Liebe und diesen Zusammenhalt durch meine Worte auch anderen zu vermitteln. Ich seufzte schwach und richtete meinen Blick, wie so oft in dieser Nacht, auf das schlafende Mädchen neben mir. Und da war sie wieder: Die Liebe. Irgendwann im letzten Sommer - dem letzten vor der Selektion - da meinte ich, sie hätte mich erwischt. Doch wäre dem so gewesen, so wüsste ich heute noch den Namen des Jungen, mit dem ich an der Alten Therme nicht mehr als 5 Sätze wechselte. Ich schwärmte ein paar Wochen von ihm. Doch Selia redete ihn mir aus. Heute weiß ich warum. Ich verspürte den Drang meine Arme um ihre Schultern zu legen und mich an ihren Rücken zu schmiegen. Sie war warm wie ein glühender Stein in einem großen Feuer. Schon manche Nacht hatten wir Arm in Arm verbracht. Der Kälte, der Erschöpfung oder irgendeiner Traurigkeit wegen. Der Tag an dem Selias Hund starb war der, an dem wir uns in der Nacht danach nicht mehr voneinander lösten. Bilder begannen mir durch den Kopf zu schießen. Selia und ich im Naturlehre-Kurs, wo sie ohne mich wohl gescheitert wäre beim bestimmen der Heilkräuter. Und im Technikkurs hätte sie keinen Stromkreis hinbekommen, hätte ich nicht jeden ihrerHanddynamos einzeln kontrolliert. Dafür brachte sie mir Englisch bei und sie konnte immer besser Zeichnen als ich und fing auch eher mit der Musik an. Stundenlang haben wir all das zusammen gemacht. Sie war alles, was mein Leben ausmachte. Wir haben uns die ganze Zeit geliebt. Wir haben es uns nur nie gesagt.Widerwillig drehte ich mich um. Mein Blick wanderte in die endlose Schwärze hinter dem Fenster. Irgendwo da draußen lag der Typ jetzt seelenruhig im Bett und hatte nichts zu befürchten. Genauso wie der andere Typ - John - der mich immerhin auch... Meine Gänsehaut stellte sich auf. Ekel und Angst kamen auf wenn ich wieder an den heutigen Abend dachte. Ich kniff die Augen zu, drehte mich um und klammerte meine Arme an die glühenden Schultern meiner einzigen Liebe, die ich für immer verloren hatte. Diese atmete ruhig weiter und gab mir halt - als wäre in den letzten Wochen nichts passiert. Die Ruhe übertrug sich auf mich und schlagartig wurden meine Augen schwer. Ich sackte weg, in eine unruhigen Schlaf.~*~
"Steh auf!", riss mich eine genervte Frauenstimme aus dem Schlaf. Ich spürte, wie man mich grob an der Schulter packte und schüttelte. Orientierungslos öffnete ich die Augen. Ich brauchte einige Sekunden um zu realisieren, dass Selia über mich gebeugt stand und es ihr langes Haar war, welches, in einem Zopf zusammengebunden, an meiner Wange kitzelte.
"Was ist denn los?", Murmelte ich schlaftrunkend. Ich wollte mich wieder auf die Seite drehen, doch meine Patnerin ließ dies nicht zu.
"Was ist mit dir los!?", keifte Selia und ließ mich wach werden. Bedacht setzte ich mich auf und bereitete mich seelisch auf einen haufen Ärger vor.
"Du kommst gestern viel zu spät nach Hause, ignorierst mich dann auch noch, sperrst dich ins Bad ein und legst dich obendrein einfach dreist neben mich ins Bett!?"
Ich traute mich nicht den Kopf zu heben. Ich wollte Selia nicht die Blöße zeigen, die sie mit ihren Worten bei mir erzeugte.
"Wo sollte ich denn sonst schlafen?", murmelte ich leise, im verzweifelten Versuch Selia zu beschwichtigen. Es hatte gegenteiligen Effekt.
"Ist mir doch scheiß egal!", rief sie aufgebracht, "Auf dem Boden, im Keller," -die Tür unter der Treppe fürte wieder erwarten nicht in einen kleinen Raum, sondern in einen modrigen alten Keller, der über und über mit rostigen Rohren und Spinnennetzen besetzt waren - "Im Badezimmer, auf dem Sofa, von mir aus auch Draußen!"
Selias Stimme zitterte vor Zorn. Ich beschloss, dass es besser wäre etwas Demut vorzugaukeln.
"Tut mir leid, Selia", murmelte ich, ließ meinen Kopf demonstrativ geneigt, "bitte verzeih mir.""Du hast nicht das Recht um Verzeihung zu bitten."
Plötzlich fing meine Kopfhaut tierisch an zu schmerzen. Selia hatte mich an den Haaren gepackt und riss meinen Kopf in den Nacken, um mich so zu zwingen sie anzusehen. Leidend verzog ich das Gesicht und gab ein unkontrolliertes wimmern von mir.
"Es tut mir leid!", hechelte ich in der Hoffnung sie würde los lassen, "Es tut mir leid!"
"Warum warst du gestern zuspät?"
"Es tut mir leid!", schrie ich, als sie noch einmal ruckartig und feste an meinen Haaren zog. Selias Mine verriet nichts. Das alles schien sie komplett kalt zu lassen.
"Jetzt rede schon!", fauchte sie, wärend ich panisch versuchte ihre Hand von meinem Kopf zu ziehen, was mir nur noch mehr Schmerzen zu bereiten schien.
"Selia, hör auf, das tut weh!", weinte ich.
"Rede!"
"Ich wurde überfallen!", preste ich im irrationalen denken heraus. Ich wurde endlich losgelassen. Zischend rieb ich mir über den Kopf.
"Wurdest du bestohlen?"
Ich schüttelte wahrheitsgetreu den Kopf.
"Vergewaltigt."
Wieder erwarten lachte Selia auf.
"Und das soll ich dir glauben?"
Ich nickte. Sah ich aus als würde ich Scherzen?
"Geh jetzt Arbeiten", befahl sie und ignorierte das eben gesagte.
Fassungslos sah ich ihr zu, wie sie aus dem Zimmer lief und verschwand.
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Die Selektion
Science FictionEine Welt des absoluten Friedens, des Glücks und der Gemeinschaft. Keine Diskriminierung auf Grund von Herkunft, Glauben, Aussehen, Geschlechts, oder Sexualität - und mitten drin: die Selektion. "Wir nutzen Gewalt um den Frieden zu wahren." Jed...