Kapitel 2

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Ich weiß nicht wie lange das Gefühl anhielt, ich weiß nicht mal welchen Namen es trug. Ich weiß nur, das ich in völlige Apartheid verfallen war. Die Außenwelt verschwamm um mich herum und ich nahm kaum wahr, wie Selia mich unter Tränen und mit letzter Kraft nach Hause brachte.

Auch dort griff Bestürzung und Hilflosigkeit um sich. Auch dort drang sie kaum zu mir durch. Mein Inneres verweigerte sich der Gewissheit mein Tod stünde bevor. Mein Verstand wusste, dass es nicht so war, doch ihm war keine Stimme gegeben in der Stille, die eintrat, als meine Mutter beschloss mich etwas alleine zu lassen. Ich dachte an nichts. Es war kein entspanntes Nichts. Es war ein nichts, das schmerzte und entsetzte. Ich war nicht genehmigt. Ein Nichts. Nichts mehr.

Umso erstaunlicher, dass ich nur Stunden später wieder halbwegs klar denken konnte. Ich betrachtete die Wanduhr in meinem Zimmer. Sekunden verstrichen, Minuten folgten. Die Regeln für das Selektionsjahr waren brachial, aber einfach. Wer genehmigt wurde, bekam Wohnung und Essen gestellt, und wenn er mochte auch Kleidung. Ansonsten war es den Genehemigten möglich bis zu 3 Koffer Gepäck mitzunehmen. Die Ungenehmigten durften kein Gepäck mitnehmen. Es wurde nur geduldet, was man am Körper trug. Und selbst das, so hieß es, würde man zu Anfang abgeben müssen und man sähe es nur wieder, wenn man überlebte.

Ich schaute mir das bisschen an, dass ich als meine Wertsachen empfand. Armbänder, Talismänner, Amulette. Jedes einzelne hatte seine eigene Geschichte und war mit einer bestimmten Person verbunden. Die meisten erinnerten jedoch an Selia. Mein Blick schweifte zu der Gitarre aus hellem Holz, die in der Ecke meines Zimmers stand. Ich liebte es auf ihr zu spielen, genauso wie ich die Musik an sich liebte. Ich glaube, das Spielen würde ich am meisten in dem letzten Jahr meines Lebens vermissen. Nichts davon würde ich mitnehmen können in die Selektion. Weder Andenken, noch die Musik. Selia, sollte alles was mir wichtig ist in ihr genehmigtes Leben nehmen. Da war es gut aufbewahrt und würde wohl noch ihr Leben lang geschätzt.

Der Gedanke Selia ab morgen nie wieder zu sehen trieb mir Tränen in meine Augen. Meine Muskeln gaben nach, ich sackte zusammen. Schluchzend verharrte ich mit dem Blick auf einem Halsband auf dem die Initialen S&L eingetragen waren. Ich registrierte eine Bewegung rechts von mir. Tycho stand in der Tür. Mein 12-jahriger Bruder guckte mich mit einem ausdruckslosen Gesicht an, das ich so noch nie bei ihm gesehen hatte. Seine Augen waren glasig und seine Wangen rot. Seine strohblonden Haare wirkten verblasst und seine Lippen zitterten bei genauerem Hinsehen.
Ich wusste, das ich nun an der Reihe war, zu trösten, die richtigen Worte finden. Doch etwas in mir sträubte sich. Ich mochte meine Rolle als große Schwester nie, doch jetzt überforderte sie mich endgültig.
Ich atmete tief durch. Legte mir die Wörter zurecht. Doch als ich den Mund öffnete, rannte Tycho den Flur entlang ins Wohnzimmer. Resignierend pustete ich Luft aus.
Wenige Augenblicke später stand meine Mutter in der Tür, Tycho wie eine Klammer am Bein. Sie öffnete ihre Arme und ging ein paar Schritte auf mich zu.
"Komm her, alles wird gut", flüsterte sie und ließ sich in mein Bett fallen. Mit wenig aber ausreichend Kraft hob ich mich auf und versank in der Schulter meiner Mutter. Ich wollte nur noch, dass es vorbei ist.

Am Abend war traditionell das große Selektionsessen. Ein ganzer Siedlungsbezirk versammelte sich - gut 200 Leute - und aß gemeinsam in einer der Siedlungshallen zu Abend. Unsere war die rote Halle. Ein imposanter, rostfarbener Bau aus der Zeit vor dem Frieden, gelegen in einem kleinen Park, dicht zugewachsen mit Buschwerk und Ranken. Am Eingang hatte man nachträglich zwei Säulen angebracht. Links eine mit einer Taube, Symbol für den Frieden, der in Mier immer anhalten sollte. Rechts ein Füllhorn, Symbol des Überflusses und damit des Krieges. Nie wieder sollten sich die Menschen barbarisch abschlachten, weil es nicht genug Wasser und Nahrung für alle gibt.

Heute aber stand das Füllhorn nicht für den Überfluss, der die Gesellschaft verdirbt, sondern für die nicht genehmigten. Für die Überflüssigen. Alle Genehmigten bekamen an der linken Säule ein weißes Mal auf den Unterarm, die Ungenehmigten an der rechten ein Schwarzes. Meine Mutter hielt mich im Arm.
"Es ist nur das Essen", sagte sie. "Wir nehmen später Abschied." Mein Vater legte mir eine Hand auf die Schulter. Stundenlang trug er das gleiche ausdruckslose Gesicht. Kein Wort hatte er seit meiner Ankunft mit mir gesprochen. Er war noch nie ein sehr gefühlsbetonter Mensch gewesen. Jetzt jedoch überforderte ihn die Situation. Der Mann, der für die Markierung zuständig war, winkte mich heran. Seine grauen mittellangen Harre passten zu dem faltigen, vernarbten Gesicht, dass Weisheit und Zuversicht ausstrahlte. Das Auftragen des Laserstempels tat nicht weh, es kribbelte nur leicht auf der Haut. Der Mann winkte mich durch. Die Halle war groß und durch die offenen Seiten lichtdurchflutet. Die Wände und Pfosten aus Beton wirkten zwar nicht schön, hatten jedoch ihren Charme. Oft hatte ich schon an den großen Mitteltischen gesessen. Dort wo die Familien mit den Genehmigten sich austauschen und über Zukunftspläne redeten. Sicher, auch die Genehmigten würden nach der Selektion nicht zurückkehren in Siedlung 23, aber für die gab es wenigstens ein 'nach der Selektion'. Für mich gab es nur noch die schwarze Bank. Die nicht Genehmigten mussten dort im hinteren Teil der Halle Platz nehmen.
In einer Gruppe von gut 20 Leuten wurden wir durch den Mittelgang geführt. Ich hielt nach Selia Ausschau. Einen kleinen Moment lang fanden meine Augen die Violetthaarige. Ihr Blick strahlte pure Traurigkeit aus. Sie wirkte deplatziert an diesem feiernden, fröhlichen Tisch, an dem sie saß. Sie starrte ins Leere. Ich hoffte bis zum letzten Moment, dass sie meinen Blick erwidern würde, doch noch ehe sie ihren Kopf hob, schoben sich die Pfosten der Halle zwischen uns. Der Ordner wies uns auf die Bänke. Wir spielten jetzt erst mal keine Rolle.

Drüben auf der anderen Seite, da wo noch alle reingekommen waren, hatte man die Türen geschlossen und ein Ansprecher richtete einige Worte an den Saal. Die Texte dieser Reden waren immer wieder ganz persönlich anders, doch im Inhalt trafen sie jedes Jahr den gleichen Kern. Ich kannte die Zeremonie. Die glorreiche Geschichte Miers wurde erzählt, wie es den Krieg überwinden konnte und wie die Selektion unserer Gesellschaft half den Frieden zu waren. Dieser Ansprecher war noch jung und verstand seinen Job trotzdem gut. Seine Wortwahl wirkte frei von Pathos und Propaganda, trotzdem war, was er sagte überzeugend und eindeutig. Die Menge klatschte. Die Speisen, die die Tischgemeinschaft selbst zubereitet und mitgebracht hatte, wurden serviert.

Die Phase des Essens und Plauderns zog sich ewig hin. Ich sah mich unter meines - neuen - Gleichens um. In den Gesichtern beobachtete ich ähnliche Gefühle, wie ich sie auch empfand. Keiner sagte ein Wort. Reden war zwar nicht verboten, aber niemand hätte etwas sinnvolles von sich geben können.

Aufmerksam beobachtete mich ein Junge in der anderen Ecke der Halle. Ein Genehmigter. Seine Blicke erzeugten Unwohlsein bei mir. Es gab Geschichten, über das, was mit Ungenehmigten kurz vor ihrer Abreise alles passieren konnte. Geschichten, deren Wahrheitsgehalt und Herkunft keiner aufklären konnte, da sie nur als Lagerfeuer-Stoff von Generation zu Generation weitererzählt wurden. So wie das meiste, was wir über die Selektion wussten, oder vielmehr was wir zu wissen meinten.

Ich hätte beinahe vor Schreck geschrien, als mich der Ansprecher aus meinen Gedanken riss. Er stand jetzt vor den Ungenehmigten und verkündete: "Der wahre Grund, warum wir heute hier sind, ist es, die zu ehren, die uns den Frieden sichern." Wie zynisch, die meisten kamen nur wegen des Essens.
"Meine lieben Mitbürger, erheben sie sich für die Selektierten."
Die Menge stand auf und Applaus brandete auf. Fast eine Minute. Ich stand da und begann zu weinen. Nicht laut und dramatisch, sondern leise, unwiderruflich. Eine Träne nach der nächsten. "Und nun" der Redner setzte wieder ein, "Nun gebt den Ungenehmigten ihre letzte Ehre."
Die letzte Ehre war das, was beim Essen übrig geblieben war. Einige Jungen trugen die Überreste zusammen und verteilten sie auf den schwarzen Tischen. Man wünschte uns guten Appetit und tischte uns Salatblätter, Knochen, Panadereste, Wurstenden und Brotstücke auf. Dies war nicht unsere letzte Ehre, dies war die erste Entwürdigung.

Die SelektionWo Geschichten leben. Entdecke jetzt