Kapitel 20

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Das Donnern wurde mit dem lauten Knallen einer Tür ersetzt.
Vor Schreck verlor ich das Messer in meiner Hand - aber auch den Halt unter meinen Füßen. Ich nahm das Klirren des Aufpralles nur am Rande wahr. Viel lebhafter war der Arm der sich um meine Tallie schlang und verhinderte, das ich mit dem Kopf voran gegen die Tischplatte knallte. Der Schleier hatte sich über meinen Sinnen stärker zugezogen. Alles was ich Spürte war die Person an meinem Rücken, die vorsichtig mit mir zu Boden gesunken war und ihre Hand auf meinen Bauch drückte. Ein kleiner, dumpfer Schmerz breitete sich von der Stelle aus, an der die Handfläche ruhte, aber auch das nahm ich nur am Rande wahr. Kraftlos lehnte ich mich gegen die Person die mich hielt. War es Selia? Hielt sie mich, wie sie es früher immer getan hatte?
Wärend ich mich an diese Erinnerung klammerte, klammerte ich mich an Selia. Ich hatte meine Arme um ihren Hals geschlungen und grub meine Finger in ihr Shirt. Ich spürte, wie sie mir sanft über den Rücken strich, aber ich verstand nicht was sie sagte. Ich hatte es zwar nicht geschafft mir das Leben zu nehmen - aber dennoch war ich an diesem Tag gestorben. Ich war gestorben und wieder auferstanden.
Ich lag in Selias Armen, wie ein neugeborenes Kind in den Armen seiner Mutter. Zum ersten Mal erblickte ich verschwommen und milchig das Licht der Welt, machte meine ersten unbeholfenen Bewegungen, weinte und schrie und krallte mich an alles was in meine Nähe kam, um den freien Fall zu stoppen in den ich geworfen wurde.

Ich konnte nicht sagen, wie lange ich dort, in Selias Armen kauerte, bis ich mich beruhigte und meine Sinne sich klärten. Das rauschen in meinen Ohren verschwand langsam, genauso wie der Druck auf meinen Schläfen.
Zum ersten mal konnte ich klar sehen, als ich die Augen öffnete. Ich nahm die Küche wahr, die Holzschränke, die gelbliche Wandtäfelung, die weißen Bodenfliesen. Ich wollte meinen Kopf in Selias Schulter vergraben, doch ich hielt erschrocken Inne, als mich ein dunkler Haarschopf begrüßte. Wo waren Selias ausgewaschenen pastel-violetten Haare? Ich verfolge den lockigen Haarballen bis zum Ansatz, bevor ich mich ruckartig von dem Mädchen löste, die eindeutig nicht meine beste Freundin war. Selia hatte helle Haut, die des Mädchens war tief Braun und leuchtete angenehm im gelblichen Gewitterlicht. Instinktiv krabbelte ich rückwärts von der Fremden weg und stieß gegen ein Bein des Küchentisches. Ein Apfel viel von der Platte neben mich auf den Boden. Perplex musterte ich meine Retterin. Sie war klitschnass vom Regen. Ich hatte es vorher gar nicht wahrgenommen. Auf ihren Lippen lag ein freundliches, aber freches Lächeln. Ihre Augen leuchteten in einem sanften Waldgrün. Man erkannte darin sofort eine gewisse Abenteuerlust und Wildheit, die allerdings von einer Menge Güte gebändigt wurde. Eine dunkele zum Pferdeschwanz gebundene Haarpracht umrahmte ihr Gesicht. Wassertropfen sammelten sich darin wie Perlen auf einem Ballkleid. Sie trug eine durchnässte ledrige Jacke. Und von dem Shirt und der kurzen Hose, die sie dazu Trug tropfte noch immer ein bisschen Wasser, sodass sich langsam eine Pfütze um sie bildete. Eine sanfte, leicht rauchige Stimme ertönte, als sie den Mund öffnete.

"Beruhige dich. Alles ist in Ordnung."

Das war eindeutig nicht meine Selektionspatnerin.

"Wer bist du?", brachte ich hervor. Meine Stimme war brüchig und zitterte.

"Ich heiße Joslin. Der Rest ist gerade egal. Du blutest."

Sie zeigte mir Ihre Handfläche, an der ein wenig Blut haftete, ehe sie sich auf richtete und meinen Arm über ihre Schulter legte. Sie unterstützte mich bei meinen ersten Gehversuchen.
Ich sah an mir herunter. Tatsächlich hatte sich ein bisschen Blut in mein Shirt gesogen. Man sah es auf dem dunkelen Stoff nicht gut, aber es hatte sich bereits verfestigt und machte den weichen Stoff an den Stellen brüchig.
Unwillkürlich wurde mir schlecht, als ich bemerkte, dass ich es geschafft hatte mich zu schneiden. Ich wusste, die Wunde war nicht tief genug um mich umzubringen, trotzdem bedrängte mich das Verlangen mich übergeben zu wollen. Ich wollte nicht sterben. Was hatte ich mir dabei gedacht?

Joslin schien meine Gedanken erraten zu können, denn sie strich mir aufmunternd über den Arm.

"Hey", sagte sie sanft, "ich sagte doch, alles ist in Ordnung."

Ich nickte leicht, noch nicht gänzlich überzeugt. Ich ließ mich von ihr ins Badezimmer führen. Sie schob mich auf den Toilettensitz und sagte mir, ich solle mein Oberteil ausziehen.
Ich tat es zögernd - immerhin trug ich Unterwäsche.
Die Wunde war nicht sonderlich tief, dafür aber lang, als wäre ich einfach nur unglücklich abgerutscht. Eine rot-braune Schicht benetzte die Haut drum herum. Es blutete immer noch ein bisschen. Wieder wurde mir schlecht.

"Schau nicht hin", empfahl mir Joslin, die sich am Erste-Hilfe-Kasten zu schaffen machte. "Es ist nicht Lebensgefährlich. Ich werde es nur reinigen und verbinden."

Ich tat was sie von mir wollte. Ich hätte sowieso nicht länger hinsehen können.
Ich spürte wie Joslin mit einem feuchten Tuch um die Wunde strich.  Es war schon ironisch. Vor ein paar Stunden hatte ich mich noch gefreut, endlich etwas taffer geworden zu sein und nun saß ich hier, ließ mich von einer Fremden nach einem Selbstmordversuch behandeln und traute mich nicht einmal ihr in die Augen zu sehen.
Als ich das rascheln des Sterilisierungspapieres, das um den Verband gewickelt war, hörte, überkam mich ein ungutes Gefühl. Selia würde merken, das ich ihn benutzt habe. Ohne ihre Erlaubnis. Noch dazu ohne eine Erklärung für die Wunde an meinem Bauch.

"Hör auf", murmelte ich.

Joslin hielt inne.

"Womit?"

"Selia - meine Partnerin, sie wird sauer werden, wenn sie merkt, dass ich ohne ihre Erlaubnis am Medizinschrank war."

Joslin quittierte dies mit dem Aufreißen der Packung. Unwillkürlich zuckte ich zusammen und sah fragend zu ihr auf.

"Mach dir darüber keine Gedanken. Du solltest dich nicht so unter kriegen lassen, Liz."

Ich runzelte die Stirn.

"Du weißt wer ich bin?", fragte ich und seufzte im gleichen Moment erkennend, "Erik?"

"Nicht direkt. Ich wurde hergeschickt, um ein Auge auf dich zu werfen - Ich denke, ich kam gerade noch rechtzeitig, hm?"

Ich nickte konsterniert. Ich wusste nicht, ob ich mich freuen, oder sauer sein sollte.

"Wieso?", fragte ich im festen Ton, "Was wollt ihr von mir? Ich habe doch bereits Nein gesagt."

Das Mädchen schwieg, beugte sich zu mir und legte mir den desinfizierenden Verband um. Ich ließ sie. Selia würde es jetzt so oder so merken.

"Wir hegen Hoffnung dich doch noch auf unsere Seite zu ziehen", brach Joslin die Stille.

Ich schüttelte den Kopf. Ich sah den Sinn hinter der ganzen Sache nicht. Was wollten sie mit ihrem friedensvernichtenden Treiben erreichen? Welches Ziel hatten sie? Es gab in dieser Welt nichts zu gewinnen. Wir - als Überlebende und Nachkommen dieser. Wir Hatten sowieso weder was zu gewinnen, noch zu verlieren. Alles war gleich. Alles war gerecht.

"Joslin", begann ich, "Ich wüsste nicht wieso ich mich euch anschließen sollte. Worum kämpft ihr? Wieso wollt ihr Krieg führen?"

In Joslins blatt-grünen Augen funkelte es auf. Der Wald stand in Flammen.
"Für die Gerechtigkeit. Für den wahren Frieden", sagte sie, in einem Ton, bei dem sich mir die Härchen aufstellten.

'Vertraue dem wahren Frieden'

Die Worte der hübschen Doktorin schossen mir in den Kopf. Genau das hatte sie gesagt. Ich wusste ja das sie mit den Streichern unter einer Decke steckt, aber erst jetzt verstand ich die Worte, die sie mir zum Ende mitgegeben hatte. Es war weniger eine Phrase als eine Aufforderung gewesen. Sie wollte das ich mich ihnen anschloss.

'Du bist alles, was ich habe. Und jetzt, wo wir wieder zusammen sind, lasse ich dich nicht mehr gehen.'

Die Worte, die Selia zu mir gesagt hatte, als wir an unserem ersten Tag von einer Ordnerin angehalten wurden schossen wie eine Gegenargumentation durch meinen Kopf. Sie hatte mich Umarmt und mir versichert, nicht zuzulassen, dass mir etwas zustößt. Es war noch aus der Zeit bevor sie so komisch geworden ist. Ein Knoten bildete sich in meinem Bauch. Genau das war der Punkt. Sie war nicht mehr die Selia die ich kannte. Sie hatte sich geändert. Meine beste Freundin war tot und ich sollte das endlich akzeptieren. Wirklich akzeptieren.

Ich überraschte mich selbst, als ich einen Entschluss faste. Ich würde für sie nicht mehr sterben. Wenn, dann starb für etwas, dass ich selbst entschied.

"Okay", sagte ich, "Ich bin dabei."

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