Kapitel 18

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Vor mir stand der Riese aus dem Zug. Ein Mädchen, das jünger aussah als sie war, war bei ihm. Er lächelte mich an.
"Hallo, Liz", sagte er mit seiner tiefen ruhigen Stimme und zauberte mir ein breites Grinsen ins Gesicht.
"Hallo, Typ, der mir seinen Namen nie verraten hat, schön dich zu sehen!", sagte ich mit sarkastischen Unterton.
"Erik", kommentierte er und zeigte dann auf das Mädchen neben sich. "Das hier ist Magda, meine Partnerin."
Magda nickte mir kurz zu. Sie schien wie Jemand, der nicht mal lächeln würde, wenn ihr Schwarm sie zu einem Date einladen würde. Sie war nur ungefähr so groß wie ich, hatte aber dennoch einen sportlichen Körperbau. Ihre mittellangen, hell blonden Haare hatte sie zu einem strammen, hohen Zopf gebunden, was sie in Kombination mit ihren kalten grauen Augen strenger wirken ließ, als sie vermutlich war. Wenn sie wirklich so war wie sie auf den ersten Blick erschien, wäre Erik vermutlich gerade nicht hier.
"Was führt dich hier her, Erik?", sagte ich an meinen alten Bekannten gewandt, "Ich habe nicht mehr mit einem von euch in meinem Block gerechnet."
Dieser Laden wurde für gewöhnlich nur von Block 5 und 6 besucht. Für alle anderen Gruppen waren andere Läden näher dran. Natürlich war es jedem gestattet die anderen Blocks aufzusuchen, aber es gab kaum jemanden der das tat, vor allem nicht zum einkaufen. Die Brachlandschaften zwischen den Blocks waren nicht gut erschlossen, man konnte leicht stolpern und sich verletzen. Und auf den Hauptstraßen wurde man oft aufgehalten und kontrolliert. Nicht, dass man etwas zu befürchten hatte, aber man war dann halt auffällig und ich wusste genauso wenig wie alle Anderen ob "auffällig" sein im Selektionsjahr nun positiv oder negativ eingeordnet wurde.

"Wir haben dich gesucht.", sagte Erik. Er schien immer diese Bestimmtheit und Ruhe in seiner Stimme zu haben.
Ich runzelte die Stirn.
"Wieso?", fragte ich.
"Dr. Nima hat mich beauftragt dich zu rekrutieren."
Meine Augen weiteten sich. Ich wusste nicht genau vor welchem Wort ich mich mehr fürchten sollte. 'Dr. Nima', oder 'Rekrutierung'.
Rekrutierung war ein schreckliches Kriegswort und stand auf der ungeschriebenen Liste von Tabu-Wörtern. In Geschichte hatten wir gelernt, dass mit diesem Wort der Krieg begann. Was hatte Erik mit einer Rekrutierung vor? Oder noch schlimmer: Was hatte Dr. Nima, die freundliche Ärztin vom ersten Selektionstreffen, mit einer Rekrutierung zu tun?
Ich öffnete den Mund um meinen Entsetzen in Worte zu fassen, doch Erik unterbrach mich mit einer beschwichtigenden Handbewegung.
"Bevor du mich anschreist-", er wartete einen kurzen Moment, um sicher zu stellen das ich nicht doch noch zu schreien begann. Ich hatte es nicht einmal vor gehabt. "-hör dir erst an was wir zu sagen haben. Dann kannst du immer noch ablehnen."
Ich überlegte kurz, dann nickte ich und sah ihn erwartungsvoll an.
Er atmete seinerseits einmal dankbar durch. Anscheinend machte er so etwas öfter. Beunruhigend.
Erik wollte scheinbar gerade anfangen, aber diesmal wurde er unterbrochen.
"Warte, Erik", sagte Magda mit einer klaren femininen Stimme und wandte sich mir zu. "Gib mir den Ladenschlüssel."
Ich brauchte einen kurzen Augenblick um ihren Befehl zu realisieren, doch dann tastete ich blind nach der Schlüsselschale und zog das klimpernde Metallstück unter dem Briefumschlag hervor.
Ohne ein weiteres Wort, oder nur ein Lächeln, zu verlieren, nahm sie ihn mir ab und schloss damit die Glastür des Ladens.
"Wieso schließt du ab?", fragte ich irritiert.
Magda schnalzte verächtlich mit der Zunge.
"Wieso schließt man eine Tür ab, hm?", fragte sie sarkastisch und warf mir den Schlüssel zu. Ich fing ihn.
"Entschuldige", schmunzelte Erik, "Maggie versucht am Anfang immer das kratzbürstige, gefühlslose Arschloch zu spielen. Mach dir nichts drauß."
Dafür wurde Erik gegen den Arm geboxt. "Sei still, Blödmann. Und ich heiße nicht Maggie."

Na super, dachte ich, noch jemand mit Namenskomplex.

"Erik", machte ich auf mich aufmerksam, "könntest du mich jetzt bitte aufklären?"
"Natürlich, Liz." Der Riese schien sich wieder zu sammeln und räusperte sich kurz.
"Hast du schon mal von den Streichern gehört?"
Ich nickte, mit einer bösen Vorahnung.
Die Streicher waren die jenigen, die sich gegen das System auflehnten. Man nannte sie Streicher, weil sie sich nie lange an einem Fleck aufhielten. Sie lebten nicht wie wir in den Siedlungen, sondern zogen in kleinen Gruppen durch die alte Welt. Sie schliefen in den Ruinen und klauten ihre Nahrungsmittel von den Farmen. Man warnte uns in der Schule vor ihnen. Sie seien unsere Feinde, weil sie gegen den Frieden und für den Krieg waren. Hin und wieder starteten sie sogar kleinere Aufstände, zündeten Dinge an und belästigten Leute. Wenn man in Mier jemals angegriffen werden sollte, konnte man sicher sein, dass es sich dabei um die Streicher handelte.
Deshalb sollte man sie auch melden, wenn man welche von ihrer Sorte entdeckte und noch rechtzeitig mit dem Leben davon kam. Für die Sicherheit. Für den Frieden.
Ein Schauer lief mir über den Rücken. Instinktiv wich ich einen Schritt nach hinten, obwohl sich zwischen Erik und mir ohnehin der schützende Tresen befand.
Erik schien meinen Gedankengang nachvollziehen zu können.
"Okay", sagte er beschwichtigend, "ich weiß was du jetzt denkst und du denkst auch richtig. Ja, ich bin ein Streicher, aber wir sind nicht so wie das Regime es euch glauben lässt. Was hat man euch über uns erzählt?"
Ich musterte ihn Skeptisch.
"Das man sich von euch fern halten soll. Ihr seid gefährlich und gegen den Frieden."
Magda gab ein belustigtes Schnauben von sich, das meine Aufmerksamkeit auf sie lenkte. "Frieden.", sagte sie verächtlich, "Dein Frieden, oder unser Frieden?"
Konfus öffnete ich den Mund, um ihr zu antworten, aber es kamen keine Worte heraus.
"Verwirr sie doch nicht gleich so, Maggie", schimpfte Erik und wandte sich dann wieder mir zu. "Vergiss einfach was sie dir erzählt haben, okay? Es entspricht nicht der Wahrheit."
"Was entspricht dann der Wahrheit, wenn du schon von Rekrutierung sprichst?"
Ich traute der ganzen Sache nicht. Obwohl ich mir sicher war das weder Erik, noch Magda mir was antun würden, fürchtete ich mich. Ich wollte die beiden aus dem Laden schicken und die ganze Sache vergessen.
"Liz", Eriks sanfte, ruhige Stimme wurde eindringlich. "Sie haben unsere Freunde und unsere Familien getötet. Sie töten jährlich Hunderte - Tausende - von jungen Menschen. Hört sich das für dich nach Frieden an?"
"Es muss sein, Erik, du weißt das!"
"Eben nicht!", er wurde genauso laut wie ich. Magda nahm seine Hand. Er stockte ertappt und atmete durch, ehe er ruhiger fort fuhr. "Das Regime betrügt euch, Liz, es können alle leben. Niemand muss sterben. Wir wollen keinen Krieg. Wir wollen Menschen retten. Schließ dich uns an. Wir holen euch hier raus."
"Nein!", rief ich verzweifelt, "Ich kämpfe nicht mit Euch! Das Regime sorgt für unser überleben!"
"Sagte die, die dieses Jahr drauf gehen wird, weil irgendein Zufallsgenerator sie aussortiert hat."
Eine leise Stimme in meinem Kopf betete mich an ihn doch ausreden zu lassen, doch die imaginären Alarmsirenen waren lauter. Ich wusste, dass es Leute gab, die das System anzweifelten, aber ich wurde noch nie so direkt damit konfrontiert.
Ich fühlte mich ein bisschen, als wäre mein Leben eine von den Glaskugeln in der Schatzkiste des Ladens und jemand war kurz davor sie herunter zu werfen. Es bestand die Möglichkeit, dass man mich danach in eine neue, bessere Kugel stecken würde, aber es konnte auch sein, dass ich elendig am Boden ersticken würde, wie ein Fisch auf dem Trockenen.
"Ich sterbe für das größere Wohl", erklärte ich eher mir, als Erik.
"Da ist kein größeres Wohl. Dein Tot wäre Sinnlos", mischte sich Magda ein.
Ich schwieg. Das alles war unglaublich nervenaufreibend für mich. Ich setzte mich auf den kleinen morschen Holzstuhl hinter dem Tresen und ließ mir das gesagt noch einmal durch den Kopf gehen. Könnten sie recht haben? War das System wirklich so nötig, wie ich es immer geglaubt hatte, oder könnten wir wirklich alle leben?
Was würde passieren, wenn ich ihnen zustimmen würde? Was wäre mit Selia? Was mit Daz und John, Antonie und die Leute, die Täglich in den Laden kamen. Was wäre mit denen, die sich gegen die Streicher Stellten? Zwei Parteien führten unweigerlich zum Krieg. Das war das ein ungeschriebenes Gesetz in Mier. Deswegen mussten alle am selben Strang ziehen. Um das Überleben der Menschheit zu sichern.
Ich spürte eine Hand auf meiner Schulter, die mich zusammen fahren ließ. Es war Eriks. Er musterte mich mit einem verständnisvollen, beinahe mitleidigen Blick.
"Es wird Zeit", sagte er und kniete sich vor mich, um mit mir auf einer Augenhöhe zu sein. Er nahm meine Hände in die seinen und drückte sie aufbauend, wie ein Vater bei seinem Kind. "Wir müssen weiter. Man wird uns bei der Fleischerei, bei der wir eingeteilt wurden, vermissen, wenn wir nicht bald erscheinen."
Ich schluckte. "Ihr arbeitet hier? Ich dachte Streicher richten sich nicht nach dem System."
"Ich wurde hier eingeschleust. Ich soll so viele vertrauenswürdige Personen wie möglich in unsere Sache einbeziehen. Das bedeutet Rekrutierung, Liz, wir wollen keinen Krieg anfangen. Wir wollen nur Leute auf unsere Seite ziehen. Wir wollen euch nur retten."
"Du sagtest etwas von Dr. Nima. Wurde sie auch eingeschleust? Ist sie auch ein Streicher?", fragte ich.
Erik schüttelte den Kopf. "Sie gehört zu uns, aber sie ist kein Streicher, nein. Sie ist eine Art Spion."
Ich sah zu Magda. "Und du?", fragte ich, "auch eingeschleust?"
Sie verneinte mit einer Geste.
"Sie ist auf normalem Weg hier hergekommen", erklärte Erik an ihrer Stelle. "Ich hab ihr von Uns erzählt und sie überzeugt bei uns mit zu machen."
Ich nickte leicht.
"Also. Bist du dabei oder nicht?", fragte Magda.
Ich überlegte kurz. Das war wahrscheinlich die schwerste Entscheidung die ich in meinem Leben treffen könnte, doch ich traf einen Entschluss.
"Nein", sagte ich einigermaßen bestimmt, "ich kann nicht. Aber ich werde niemandem von euch erzählen. Versprochen."
Enttäuschung schlich sich auf Eriks Miene.
"Okay", murmelte er konsterniert, "du kannst es dir immer noch anders überlegen. Melde dich einfach bei uns."
Damit stand er auf, nahm mir den Schlüssel, den ich die ganze Zeit umklammert gehalten hatte, aus der Hand und schloss auf.
Zusammen verließen die Beiden den Laden und ließen mich mit all meinen Zweifeln alleine.

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