Kapitel 17

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Sobald ich das erste Brett berühre, färbt es sich zu einem zarten lila.

"W-was...!", erschrocken weiche ich zurück, doch die Farbe bleibt. Verwirrt sehe ich zu Ralf, aber dieser ist ebenso erschrocken wie ich. "Wie hast du das gemacht?", er kommt staunend an meine Seite geeilt. "Ich habe nur an etwas schönes an diesem Ort gedacht...", erwidere ich. "Kannst du bitte eine Stufe höher gehen und dabei an Orangen denken?", bittet Ralf mich. Vorsichtig trete ich wieder auf die erste Stufe, doch sie bleibt lila. Erleichtert trete ich auf die nächste und stelle mir dabei einen Korb frische Orangen vor. Augenblicklich färbt sich die Stufe orange. Fasziniert gehe ich weiter.

Frisches Gras. Saftige Äpfel. Wein. Rauschende Wellen. Dunkle Rinde. Strahlende Sonne. Mit jeder Stufe werden die Farben intensiver, doch dann denke ich an etwas, von dem ich dachte, ich hätte es für immer aus meinen Gedanken verbannt. Das Brett, auf dem ich stehe, löst sich in Luft auf und ich falle. Schnell versuche ich, mich zu verwandeln, aber es ist zu spät. Ich höre Ralf nach mir rufen, dann wird alles dunkel.

Ich schlage die Augen auf und blicke auf eine graue Wand. Schlagartig bin ich hellwach. Was ist nur passiert? Ich stehe auf und sehe mich im Zimmer um. Es ist vielleicht zehn Quadratmeter groß und quadratisch. Alle Wände, sowie Decke und Boden sind von demselben grau. Eine schreckliches Gefühl von Angst, Panik, Gewalt und Verzweiflung umgibt mich. Langsam sehe ich an mir herunter. Meine Beine und Füße sind nackt und schmutzig. Ich trage ein bräunliches Hemd. Meine Haare sind zerzaust und mir ist kalt.

Die Tür wird geöffnet. Da steht eine Person, die ich all die Zeit so vermisst habe. Mir steigen heiße Freudentränen in die Augen und mein Körper beginnt zu zittern. Ich zwinge mich, einen Fuß vor den anderen zu setzen, um zu ihm zu gelangen. "Geht es dir gut?", fragt er etwas ängstlich. Es muss mein erster Tag hier sein und ich weiß noch genau, was ich damals tat. Inzwischen stehe ich vor ihm. Ich erkenne seine zusammen gezogenen Augenbrauen, seine Wangen, seine Ohren die viel zu groß scheinen. Seine versteifte Haltung von der langen qualvollen Zeit hier. Seine Augen, durch die ich in seine Seele sehen kann. Dort herrscht Chaos. Alles ist wirr und scheint undurchdringlich, doch ich weiß es besser. Ich weiß, wie kaputt seine Seele wirklich ist. Wie viel er durchgemacht hat. Wie viel Leid er erleben musste. Weinend falle ich ihm in die Arme. "Ich will hier nicht sein!", schluchze ich. "Ich denke, dass keiner hier sein möchte. Du solltest dich nicht selbst bemitleiden. Was kannst du schon erlebt haben?", niederträchtig redet er auf mich ein, löst die Umarmung jedoch nicht. Zum ersten Mal seit langem sieht mich jemand, wie ich bin. "Wer bist du?", frage ich wimmernd -obwohl ich sehr gut weiß, wer er ist- und sehe ihn an.

"Hier werde ich 'der Ernstfall' genannt, doch mein Name ist Ralf. Und du?", fragend sieht er mich an. "Skayla.", bringe ich hervor. "Es ist spät. Wir sollten lieber schlafen gehen, sonst bekommen wir noch Ärger und morgen ist Pudding-Tag, dass will ich unter keinen Umständen verpassen.", Ralf geht an mir vorbei und legt sich in das Bett meinem gegenüber. Ich stakse ebenfalls zu meinem Bett und lasse mich hineinfallen. Die Müdigkeit holt mich und ich schlafe ein.

"Hey, Skay!", ich werde unsanft wachgerüttelt. Ich drehe mich zur Wand und presse die Lider aufeinander, um meine Tränen zu verbergen. Das ich im Schlaf weine, ist zwar nichts Neues, aber zuhause weiß davon keiner. "Du brauchst sie nicht zu verstecken... In der Nacht hast du mehrmals aufgeschrien, deswegen habe ich bei dir geschlafen und dich gehalten. Geweint hast du auch, doch ich verstehe nicht warum. Durch Tränen geht der Schmerz auch nicht weg.", murmelt Ralf. "Woher willst du das denn wissen?!", fahre ich ihn kratzbürstig an. "Huch. Das Kätzchen hat ja Krallen!", ich kann förmlich seine Belustigung hören. "Aber zu deiner Frage. Ich will das nicht wissen, aber ich weiß es. Mein Vater starb vor vier Jahren an einem Arbeitsunfall und meine Mutter hat sich selbst ein Jahr später umgebracht. Ich habe zehn Geschwister, von denen sind fünf älter und fünf jünger als ich. Die älteren fünf haben uns großgezogen, rutschten jedoch irgendwann alle ab und wurden Alkoholiker oder drogenabhängig. Sie ließen uns zurück und ich musste uns versorgen. Das war vor eineinhalb Jahren. Ich hatte weder Geld noch Arbeit, also blieb mir nichts als betteln und stehlen übrig. Ich wurde gefunden und meine drei Büder und zwei Schwestern ebenfalls. Meine Geschwister wurden in unterschiedliche Heime gesteckt und ich wurde hier eingewiesen. Jetzt bin ich seit einem Jahr hier und man hat mir eine unheilbare psychische Krankheit diagnostiziert. Ich werde also für immer hier bleiben müssen und jede Nacht im Traum den Tod meiner Familie sehen.", platzt es aus Ralf heraus. "I-ich...d-du....", völlig erschrocken sitze ich nun neben ihm. Dann reißt auch bei mir der Faden und die Worte sprudeln förmlich aus mir heraus. "Ich bin schuld an dem Tod meines Vaters. Ich hätte meine beste Freundin retten können, aber ich habe es nicht. Ich wäre ihr gefolgt, hätte meine Mom das zugelassen. Die beiden würden jetzt noch leben, würde ich nicht auf der Welt sein. Sie wären glücklich. Ich sah, wie mein Dad von einem LKW zerquetscht wurde und wie seine Leiche in die Luft flog. Ich sah wie meine beste Freundin ihr letztes Mal lächelte, in den Sonnenuntergang sah und sich fallen ließ. Es war, als wäre jegliches Leben schon vor ihrem Zusammenstoß mit dem Laster aus ihr gewichen. Ich rief nach ihr. Immer und immer wieder rief ich nach Luzy, doch sie antwortete nicht, kam nicht zurück. Nie mehr.", die Tränen rinnen meine Wangen hinab und tropfen auf Ralfs Pullover. Er nimmt mich in den Arm und drückt mich fest an sich, bis meine Tränen versiegt sind. "Komm, du ziehst dir jetzt was ordentlicheres an und wir gehen frühstücken.", Ralf steht auf und bietet mir seine Hand an, die ich dankbar ergreife.

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