„Und das ist der Grund, warum das limbische System eines der wichtigsten Teile des Gehirns ist, weil es durch das systematische Hervorrufen von Stimmungslagen, Situationen einen Wert verleiht und diese für das Individuum..."
Ein heftiger Knuff traf Jess in die Seite, als sie gebannt der Lesung ihres Neurologie-Professors lauschte. Vor Schreck fuhr die braune Stute mit wild gelocktem Fell in sich zusammen, bis sie realisierte, dass ihre kleine Schwester, Debbie, sie aus gelangweilten, grünen Augen anblickte. Was hatte sie sich nur dabei gedacht, dem Flehen ihrer Schwester nachzugeben und sie zu einer ihrer Lesungen mitzunehmen. Vielleicht hatte sie einfach Mitleid gehabt, weil Debbie nach ihrem Schulabschluss noch immer keinen Plan hatte, was sie später einmal werden wollte. Dass sie sich gerade für ihr Medizinstudium interessiert hatte, war selbst für Jess eine große Überraschung gewesen. Trotzdem hatte sie ihr Chance geben wollen und nun hatte sie den Salat.
„Was ist denn?", zischte Jess ungehalten. Debbie deutete mit einem verschmitzten Lächeln auf einen Palomino Hengst mit dichter, wuscheliger Mähne und strahlend blauen Augen, der in der ersten Reihe stand und desinteressiert in seinem Notizblock herum kritzelte. In Jess Augen ein potentieller Versager für die nächste Klausur.
„Ist der nicht schnucklig?", säuselte Debbie verträumt. Dass der Hengst womöglich mindestens sechs Jahre älter war als sie, juckte sie dabei herzlich wenig. Wahrscheinlich war das irgend so ein Typ, der eigentlich nur Medizin studierte, weil seine Eltern es von ihm verlangten und darauf hoffte, dass er irgendwann aus dem Studiengang flog, um Architekt oder Sprachwissenschaftler zu werden.
Jess rollte mit den Augen und versuchte wenigstens auf einem Ohr noch halbwegs die Lesung zu verfolgen. Immer bedacht darauf, ein Auge auf Debbie zu werfen, damit sie sie nicht vor der ganzen Versammlung blamierte.
„Kannst du mich dem nicht mal vorstellen? Du kennst ihn doch sicher", fragte Debbie weiter. Jess sog scharf Luft durch ihre Zähne. Sie hatte bereits geahnt, dass ihre Schwester diese Frage stellen würde.
„Debbie, wir sind hier auf der Uni. Wir gehen in die Lesung, hören dem Professor zu und danach verschwinden wir wieder. In diesem Raum kenne ich überhaupt niemanden. Und jetzt sei still! Das Thema kommt im nächsten Examen dran!"
„Dann ist Studieren ja total langweilig", maulte die fuchsrote Stute neben Jess und begann gelangweilt einen Bleistift auf dem Tisch herum zu rollen.
„So ist das eben. Wenn du jemanden kennen lernen willst, dann musst du eben auf eine der dutzenden Studentenpartys gehen."
Ganz plötzlich hellte Debbies Blick sich auf und ein keckes Grinsen erschien auf ihrem Gesicht.
„Oh liebstes Schwesterlein", säuselte sie. Jess peitschte ungehalten mit dem Schweif.
„Auf gar keinen Fall!"
„Och bitte!"
„Ich hab nein gesagt!"
„Und wenn ich dir verspreche, dass ich nur eine Stunde bleibe und dann wieder gehe?"
Jess pustete amüsiert durch die Nüstern. „Ja, als ob!"
„Einen Versuch war's wert", schmollte Debbie. „Ach Menno!"
Unterdessen hatte der Professor vorne wohl bereits bemerkt, dass die beiden Schwestern in ein Gespräch vertieft waren. Und da Professor Donovan ein äußerst korrektes Pferd war, das es nicht mochte, wenn in seinem Hörsaal getuschelt wurde, nutzte er die Situation, um Jess auf die Probe zu stellen.
„Miss McLaren! Sie können mir doch mit Sicherheit sagen, wie man die Störung des Gehirns nennt, bei der Betroffene unfähig sind, ihre eigenen Gefühle und die von anderen richtig wahrzunehmen oder in Worten zu beschreiben."
Jess schrak heftig zusammen, als die Blicke ihrer Kommilitonen sich auf sie richteten. Sie kannte die Antwort. Warum brachte sie nur kein Wort mehr heraus? Selbst der gelangweilte Palomino spitzte neugierig die Ohren und richtete seine blauen Augen auf sie. Diese Augen! Sie waren so klar und so tief und so offen, dass Jess für einen Moment vergaß, dass sie noch immer unter Abfrage stand.
„Miss McLaren. Wir warten!", schnaubte Professor Donovan ungeduldig und mit einem Ruck war Jess zurück im Hier und Jetzt.
„Alexithymie. Es ist eine Störung des limbischen Systems, die den korrekten Chemikalienaustausch blockiert, was dazu führt, dass der Betroffene zwar Emotionen entwickeln, aber nicht mehr deuten kann."
Professor Donovan lächelte zufrieden. „Gut gerettet, Miss McLaren. Aber verschieben Sie das nächste Mal ihre Schwärmereien und Gespräche nach draußen in die Aula. Es wäre mir ein Fest!"
Jess schoss das Blut in den Kopf als der Palomino mit einem wissenden Lächeln den Kopf abwendete, um weiter in seinem Notizbuch zu kritzeln.
„Und Sie, Mr. Higgins sollten sich ein Beispiel an Miss McLaren nehmen. Sie macht ihre Unaufmerksamkeit durch richtiges Lernen wieder wett. Was man von Ihnen nicht gerade behaupten kann. Wenn Sie sich nicht in meinen Lesungen beteiligen, sehe ich schwarz für das Examen am Ende des Monats."
„Wir werden ja sehen", gab der Hengst namens Higgins provokant zurück, ohne mit dem Gekritzel in seinem verfluchten Notizbuch aufzuhören.
Etwas verblüfft schreckte Professor Donovan zurück und wagte dann einen Blick auf die Uhr. „So spät schon. Ich denke, wir beenden das Thema hier. Arbeiten Sie mir bitte bis zur nächsten Woche eine Grafik und eine Zusammenfassung des Themas aus. Diese wird in Ihre Bewertung mit einfließen."
Die Studenten polterten mit den Hufen auf den Boden, um dem Professor für den Vortrag zu applaudieren, dann packten sie in Windeseile ihre Sachen zusammen und stürmten aus dem Hörsaal. Jess hatte alle Hufe voll zu tun, um einerseits Debbie bei sich zu behalten und andererseits wollte sie auch nicht die letzte sein, die den Raum verließ. Das ersparte meistens unerwartete Kontakte mit Fremden.
Gerade wollte Jess ihr Mäppchen in die Tasche stecken, da stieß ihr Kopf mit dem von Debbie aneinander, die ihr hatte helfen wollen. Und schon lagen alle ihre Stifte verstreut über dem Boden des Hörsaals.
„Toll gemacht, Debbie. Ganz toll!"
„Sorry", murrte ihre Schwester nur und begann dann wortlos, die Stifte vom Boden aufzusammeln.
„Nanu, warum so eilig? Habt ihr zwei denn heute noch was vor?", eine Stimme näherte sich ihrer Reihe. Jess hob prüfend den Kopf und erkannte den Hengst, Higgins, der gerade nähertrat und ebenfalls ein paar der Stifte vom Boden aufsammelte.
„Aäh, also", stammelte Jess.
„Nö!", fiel Debbie ihr ins Wort. „Jess ist nur ne furchtbare Langweilerin und will so schnell wie möglich vor allen Leuten hier fliehen."
Jess stieß ihre Schwester unwirsch in die Seite und grinste Higgins peinlich berührt an.
„Ist das so?", fragte dieser und blickte Jess dabei tief in die Augen. Diese Augen! Blau traf es nicht ganz. Es war mehr ein Hauch von Zyan, gemischt mit dunkleren Sprenkeln, die auf einem Bett aus hellen Melierungen tanzten.
„Also, ich ... ich kenne hier eigentlich niemanden. Meine Freunde studieren hunderte Kilometer weit weg. Meine Schwester ist eigentlich auch nur hier, weil sie mal sehen wollte, was wir hier so machen."
„Damit will sie sagen, dass sie heute nichts vorhat!", platzte Debbie ihr noch einmal ins Wort.
„Debbie, lass das!"
„Schön! Dann habt ihr doch sicher Lust, heute Abend auf eine Runde ins Orion zu kommen, oder? Ein Freund von mir legt dort auf und braucht ein paar Leute, die etwas Stimmung machen."
„Ja, wir kommen!", rief Debbie lautheraus. „Ich meine, wir haben eh noch nichts Besseres vor, nicht wahr?"
„Also, eigentlich..."
„Das heißt ja!", Debbie packte Jess Mäppchen und steckte es in ihre Tasche. Dann drängte sie ihre Schwester in Richtung Ausgang.
„Wir werden sehen. Äh, danke für die Einladung!", rief Jess über die Schulter. Der goldene Hengst reckte seinen Kopf und lächelte ihr freundlich zu.
„Wenn ihr rein wollt, sagt, dass ihr Freunde von Clyve Higgins seid!"
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A3360 - Lehren der Vergangenheit
Teen FictionACHTUNG: Diese Geschichte ist verfasst als eine Art Fabel, in der alle Hauptcharaktere als Pferde dargestellt sind.Ihr Verhalten ist jedoch soweit vermenschlicht, dass die Story jederzeit auf Menschen umgeschrieben werden kann. Es handelt sich hier...