Kapitel 33 - Moralische Abgründe

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"Und, wie geht's dir?"

Jess ließ sich wie selbstverständlich neben Clyve auf das Bett sinken, auf dem der Palomino sich mit seiner Hinterhand nierdergelassen hatte. Er ließ den Kopf hängen und seufzte müde, als ob er die ganze Nacht nicht geschlafen hätte. Augenringe hatte er jedoch keine.

"Die Medikamente machen mich ziemlich müde", schnaubte er schlapp. "Aber man gewöhnt sich daran."

"Das war nicht die Antwort auf meine  Frage", hakte Jess nach. Clyve blinzelte ihr neckisch zu, bevor er sich sachte an sie lehnte und die Augen schloss. 

"Du bist da. Besser könnte es mir im Moment nicht gehen."

Jess spürte den Schmerz und die Reue, die der Hengst neben ihr in sich trug. Früher hatte sie immer gedacht, dass Clyve einer von diesen Kerlen war die nur darauf aus waren, so viele Herzen wie möglich zu brechen. Beliebt, bei allen Studentinnen und Studenten, unterstützt von Daddy und bevorzugt von Professoren, die ihn trotz seiner mangelnden Motivation immer weiter pushten, egal, was er auch dagegen unternahm. Aber sie hatte sich in ihm getäuscht.

Clyve war ein zerbrechlicher, junger Hengst, der jemanden brauchte, der ihm seinen Rücken stärkte. Und da er diese Unterstützung von seinem Vater nicht bekam, hatte er wohl sie ausgewählt. Was auch immer er in ihr zu sehen vermocht hatte. 

Aber er brauchte sie. Sie war wie der seidene Faden, an den er sich klammerte. Wenn sie ging, würde er fallen. Jess war sich nicht sicher, ob sie sich in einer so engen Beziehung wohlfühlen können würde. Es war mehr eine Aufgabe, als ein inniges Verhältnis. Und auf Dauer würde es bestimmt nicht leichter werden. 

"Wie- wie ist es auf der Arbeit?", fragte Clyve dann jedoch und riss Jess so jäh aus ihren Gedanken. Warum fragte er das? Er hatte es bisher doch immer gemieden, sie darauf anzusprechen? Wollte er vielleicht einfach nur das Thema wechseln? Hätte er sie nicht lieber nach ihrer angeblichen Affäre mit Joe fragen wollen? Oder wann ihre Eltern das letzte mal miteinander-

"Gut", antwortete sie deshalb nur knapp. "Ja, es ist, gut."

"Wirklich?", hakte er etwas misstrauisch nach. "Du klingst nicht so begeistert."

Jetzt war es Jess, die niedergeschlagen seufzte. "Es ist- Na ja. Ich verstehe nicht ganz, was diese Experimente bringen sollen. Eine Stute meinte, dass ihre Behandlung schon lange abgeschlossen ist, sie aber noch immer nicht entlassen wurde."

Clyve erhob sich schlapp und ließ sich dann seitwärts, langgestreckt auf das Bett fallen. "Wenn sie noch da ist, wird das schon seine Gründe haben."

Diese Antwort befriedigte Jess jedoch nicht im Geringsten. Es klang beinahe so, als wolle er eine unangenehme Diskussion umgehen, indem er eine plausibel klingende Ausrede in den Raum warf. 

"Und wenn die Sklaven im neunzehnten Jahrhundert an Ketten gehalten, gebranntmarkt und ausgepeitscht wurden, dann hatte das sicher auch seine Gründe, oder? Wa ja schließlich gerechtfertigt, weil sie in den Augen der Einwanderer nichts, als Arbeitstiere waren, nicht wahr? Weil sie dunkles Fell hatten!"

Jess beißender Sarkasmus ließ Clyve für einen Moment verbittert aufstöhnen, bevor er sich wieder aufrichtete und seiner Freundin schulterzuckend direkt in die Augen blickte.

"Ich verstehe, dass Du Zweifel hast. Sag nicht, dass ich dich nicht gewarnt hätte."

"Warum machst du das überhaupt mit?", schnaubte Jess verwundert. "Das ist alles doch sehr riskant und vielleicht auch illegal, Clyve. Das könnte dich ins Gefängnis bringen."

Der Palomino schüttelte doch nur mit einem leisen Lachen den Kopf. "Das auf gar keinen Fall, Jess. Alles, was wir tun, ist vom Staat genehmigt und teilweise von Präsident Andersson höchstpersönlich angeordnet worden. Außerdem versuchen wir nur, Meilensteine in der Wissenschaft zu setzen. Das könnte so vielen Pferden in Zukunft das Leben retten, Jess! Es ist doch nichts Falsches, was wir tun, wenn wir es im Sinne der gesamten Pferde der Welt tun."

A3360 - Lehren der VergangenheitWo Geschichten leben. Entdecke jetzt