Kapitel 16 - Familiendrama

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"Deine Mutter ist also - tot?", Jess traute sich beinahe nicht, es auszusprechen, so traurig und verwirrt, wie ihr Freund gerade aussah. Was war nur passiert und warum war Clyve dann nicht wenigstens dankbar, noch seinen Vater zu haben? Der erfüllte ihm doch jeden Wunsch, auch, wenn er offenbar nicht viel von seinem Sohn zu halten schien. Der Hass basierte wohl auf Gegenseitigkeit.

Clyve nickte mit hängenden Ohren, nahm Jess das Foto ab und strich sanft mit den Lippen über das Bild seiner Mutter, bevor er es zurück in den Nachttisch legte. In Jess Kopf türmten sich Berge von Fragen. Aber vor allem fragte sie sich, warum Clyve so extrem geschockt reagiert hatte, als er sie mit dem Foto gesehen hatte. 

"Meine Mutter war ein wunderbares Pferd, Jess", begann er dann zögerlich zu erklären. "Sie war so voller Licht und Freude. Voller Leben."

Clyve ließ sich auf das Bett fallen, als seine zitternden Beine ihn nicht mehr halten wollten. Dann seufzte er laut auf und atmete tief durch, um neue Kraft für den Rest der Geschichte zu tanken, die er nun mit Jess teilen wollte. Die braune Stute legte sich tröstend an seinen Bauch. Sie spürte seine Verzweiflung. Sie wusste, wie schrecklich es war, sich einsam zu fühlen. Schließlich hatte sie sich mit ihrer Schwester verkracht, obwohl es eigentlich gar nicht nötig gewesen wäre. Nur - Debbie würde sie wieder sehen. Clyve war diese Möglichkeit wohl verschlossen.

"Wie hieß sie?", fragte Jess dann, um ihm den Einstieg in die Geschichte zu erleichtern. Er blickte sie mit einem sanften Lächeln an, bevor er die Augen schloss.

"Laura Higgins, geborene Brown", schnaubte er liebevoll. "Sie war Krankenschwester und arbeitete die ersten Jahre bei meinem Vater im Labor, um sich um Patienten zu kümmern, die sich zu speziellen Heiltherapien gemeldet hatten. Ich war noch sehr jung, als meine Eltern sich daraufhin trennten. Und, wie gesagt, mein Vater erlangte das Sorgerecht für mich und unterband mir jeglichen Kontakt zu ihr."

"Wie gemein", Jess konnte sich gut vorstellen, wie schlimm diese Trennung für den kleinen Clyve gewesen sein musste. Von heute auf morgen war seine geliebte Mutter einfach nicht mehr da und er durfte sie weder sehen, noch mit ihr sprechen.

"Ich war aber natürlich nicht auf den Kopf gefallen", fuhr Clyve daraufhin fort. "Ich fand in Vaters Unterlagen eine Adresse, wo meine Mutter sich aufhielt und blieb die Jahre darauf mit ihr in schriftlichem Kontakt. Ich sagte meinem Vater, dass es eine Brieffreundschaft mit einem alten Schulfreund war, doch er fand es nach ein paar Jahren wohl heraus und fing ihre Briefe ab, ohne, dass ich etwas davon merkte. Und ich dachte, dass sie nun den Kontakt zu mir ebenfalls abgebrochen hatte."

"Wieso würde er so etwas tun?", fragte Jess, doch Clyve zuckte nur mit den Schultern. "Weil er ein paranoides Arschloch ist, würde ich sagen. Er hatte wohl Angst, dass Mutter mich gegen ihn aufhetzen würde. Jedenfalls fand ich vor einigen Jahren durch Zufall eine Sammlung von ihren Briefen in Vaters Büro. Sie hatte über die Jahre immer wieder geschrieben und versucht, Kontakt zu mir aufzunehmen, doch hatte nie eine Antwort von mir erhalten. Schließlich muss sie wohl gedacht haben, dass auch ich mich von ihr abgewendet hatte..."

Clyve erbebte unter diesem Gedanken. Jess hatte bereits eine düstere Vorahnung, was passiert war. Doch sie schwieg und behielt diesen Gedanken für sich, um Clyve nicht noch weiter aufzuwühlen.

"Der letzte Brief, den ich fand, war erst wenige Tage alt. Ich wusste, dass sie durch die Trennung viele ihrer Freunde verloren hatte und da sie selbst keine verbleibende Familie mehr hatte, war sie völlig auf sich alleine gestellt. Mein Vater  hatte sie nicht nur aus unserem Leben vertrieben, sondern sie auch ohne Aussicht auf ein besseres Leben in eine Reihenhauswohnung verbannt. In ihrem Brief schrieb sie, dass sie nun mit meinem Kontaktabbruch jede Freude im Leben verloren hatte und hoffte, dass ich ihr jemals für alles vergeben könnte. Die Nachricht machte mir große Angst, also fuhr ich im Sommer 2000 im Unwissen meines Vaters per Anhalter zu der Adresse ihres Aufenthaltsortes, um sie zu besuchen. Ich dachte mir: Wenn es mein Vater schon nicht tut, dann mach ich es wenigstens. Aber als ich da war, öffnete mir niemand die Tür. Im Briefkasten stapelten sich bereits die Zeitungen und der kleine Vorgarten war ungepflegt und völlig welk. Ich hatte ein ganz furchtbares Gefühl, als ich da draußen stand und alles so totenstill war."

Der Palomino kniff die Augen fest zusammen, um wohl ein schreckliches Bild vor seinen Augen zu verdrängen, das nun folgte. "Ich musste die Tür aufbrechen, um in das Haus zu gelangen und da sah ich sie. Sie hatte sich im Flur erhängt und schien wohl bereits einige Tage dort gewesen zu sein. Der Schwarm von Fliegen und der Gestank sprachen Bände..."

Jess stockte der Atem, als sie Clyves Geschichte folgte. Seine Mutter hatte sich umgebracht und er hatte sie gefunden? Und seinem Vater war das alles vollkommen egal? Was für ein herzloses Monster musste dieses Pferd sein, wenn er zu so etwas imstande war? Wie furchtbar musste es sein, seine eigene Mutter nach einem Selbstmord tot vorzufinden, wenn man jahrelang gedacht hatte, dass sie es war, die den Kontakt abgebrochen hatte? Ganz abgesehen davon, wie furchtbar verstörend der Fund ihrer bereits verwesenden Leiche für ihn gewesen sein musste. Jess konnte bei diesem Gedanken nur den Kopf schütteln.

"Verstehst du jetzt, warum ich nie darüber reden wollte?"

Der verbitterte Tonfall des Hengstes machte es Jess einfach, sich ein Nicken abzuringen und ihren Kopf tröstend an seinen Hals zu legen. 

"Ich war erst sechzehn Jahre alt, aber dieses Ereignis hat mich gezeichnet."

Jess hob überrascht den Kopf. Sie hatte gedacht, dass Clyve bereits älter war. Zumindest hatten sie noch nie darüber gesprochen, denn eigentlich war es für Jess beinahe selbstverständlich gewesen, dass ihr Freund etwa gleich alt war, wie sie. Schließlich waren sie ja im selben Semester. Und wenn er einen gewöhnlichen Schulabschluss mit achtzehn Jahren gemacht hatte, konnte er nicht viel jünger als fünfundzwanzig sein. Aber da hatte sie sich wohl getäuscht.

Das musste bedeuten, dass er erst einundzwanzig war. Wie konnte es denn da sein, dass sie beide im selben Semester waren? Dann musste er sein Studium ja auch mit sechzehn begonnen haben. Und wie hatte er das geschafft?

"Sechzehn, aber das heißt ja...", begann sie zögernd, doch der Hengst ließ sie nicht ausreden.

"Ich hatte einen Hauslehrer und daher recht früh meinen Schulabschluss, weil mein Vater darauf drängte. Also wundere dich nicht. Vergib mir bitte, dass ich dir das verschwiegen habe. Ich hatte Angst, dass du vielleicht nicht mit jemandem zusammen sein möchtest, der jünger ist, als du. Das ist doch bei vielen Stuten so, oder nicht?"

Jess stockte der Atem. Sie wusste, dass er im September Geburtstag hatte. Aber in welchem Jahr genau er geboren war, hatte sie nie gefragt. Sie ärgerte sich über ihre eigene Dummheit. 

Fest stand jedoch, dass er es nicht leicht gehabt hatte mit seiner Familie und dass er nun in ihr jemanden sah, der ihm nicht nur die Liebe gab, die er in seinem Leben brauchte, sondern auch endlich das Gefühl, nicht mehr alleine mit seinen Sorgen zu sein. 

"Jess?", fragte er sie leise und mit einem Zittern in seiner Stimme, das darauf schließen ließ, dass er noch immer Angst vor etwas hatte. "Willst du wirklich dieses Praktikum machen?"

Jess musste gestehen, dass sie sich mittlerweile gar nicht mehr so sicher war, was sie wollte. Darum mied sie die Antwort auf die Frage ihres Freundes und kuschelte sich stattdessen eng an seine Seite. Sie war froh, dass er ihr erzählt hatte, was passiert war. 

Und dennoch fragte sie sich, was Clyves Vater zu seinem Handeln gebracht hatte.


A3360 - Lehren der VergangenheitWo Geschichten leben. Entdecke jetzt