Kapitel 37 - Vorbei

748 60 35
                                    

"Was hat er jetzt schon wieder angestellt?", wieherte Jess verwirrt. Debbie neben ihr schien keinen blassen Schimmer zu haben, jedenfalls deutete sie nur hektisch auf die Straße, die vor ihnen lag und wedelte dabei mit einem ihrer Hufe wild in der Luft herum.

"Winston Street.  In der Nähe der Southbank Cathedral. Beeil dich! Luke meinte, dass ich dich mitbringen soll."

Jess fragte sich, ob das alles ein böser Scherz sein sollte. Was hatte sie denn jemals mit Joe zu tun gehabt, außer, dass sie mit ihm eine kurze Zwiesprache über seine Beziehung mit Debbie gehalten hatte? Joe war weder ihr Freund, noch ein guter Bekannter. Er war einfach der Freund ihrer Schwester, mehr aber auch nicht. Und besonders oft bekam sie ihn nun auch nicht zu Gesicht, da er meistens mit Debbie irgendwo in der Weltgeschichte unterwegs war.

"Hier links!", wieherte Debbie schrill. Die Nervosität ihrer Schwester steckte an und Jess Herz begann wild zu klopfen. Was war, wenn Clyve... Nein, das war zu abwegig. Was hätte Clyve für einen Grund, Joe ein weiteres Mal ins Krankenhaus zu bringen? Das war absurd, nein. Clyve hatte ganz genau verstanden, dass zwischen Joe und ihr nichts lief.

Debbie lotste Jess in Richtung eines Studentenwohnheims, welches relativ zentral in der Stadt gelegen war. Es war kein besonders hübsches Gebäude, höher als breit und mit hässlichen, vergilbten Sandsteinen verkleidet. Doch vor dem Eingang stand eine große Gruppe von Pferden, die offenbar irgendetwas interessantes gehört oder gesehen hatten und nun zum Gaffen hierher gekommen waren.

Jess parkte im totalen Halteverbot, um zusammen mit ihrer Schwester auf das Gebäude zuzulaufen. Luke, ein zierlicher, kleiner Apfelschimmel kam ihnen bereits, völlig aufgelöst, entgegen. Er hinkte stark, wobei er versuchte, seine rechte Schulter nicht zu belasten.

"Der Kerl ist komplett irre! Der hat uns am Eingang aufgelauert und ist ohne Vorwarnung auf JJ losgegangen. Ich hab versucht, ihn aufzuhalten, aber der Scheißkerl hat mir die Schulter ausgerenkt. Ich habe mich in Sicherheit gebracht und die Polizei gerufen, aber die braucht immer so lange hier."

Jess schluckte hart. Das durfte einfach nicht wahr sein. Zwischen der Pferdemenge sah sie immer wieder goldenes Fell und eine schneeweiße Mähne aufblitzen, die immer und immer wieder durch die Luft wirbelte, als der Palomino auf den am Boden liegenden Joe einstampfte. Von den Umstehenden schien keiner auch nur in Erwägung gezogen zu haben, den wild gewordenen Hengst zu ergreifen und ihn von Joe herunter zu ziehen. Stattdessen erblickte Jess nun auch noch Kimberly und Shirley in der Menge und da riss ihr die Hutschnur.

Ohne nachzudenken, galoppierte sie blindlings über die Straße, rammte die gaffenden Schaulustigen zur Seite und trat Clyve mit voller Wucht in den Bauch.

"Du verdammter Scheißkerl!", wieherte sie zornentbrannt. "Lass ihn gefälligst in Ruhe!"

Doch Clyve war wie in einem Rausch. Er schien nicht einmsl zu bemerken, dass Jess da war, sondern verbiss sich zornig kreischend in Joes Nacken, schüttelte ihn und fing sich daraufhin sogleich ein paar Tritte des Fuchses unter ihm ein, der sich panisch zu wehren versuchte. Clyve hob seinen Huf und trat zu. Das Knacken von Knochen war zu hören, als Clyve Joe das Nasenbein brach.

Ein fürchterliches Schmerzgeheul erfüllte die ganze Straße. Es lockte nun auch noch die Pferde an ihre Fenster, die bis zu diesem Zeitpunkt nur ahnungslos in ihren Wohnungen gesessen waren. Dann kehrte kurz Ruhe ein.

Genau diesen Zeitpunkt nutzte Jess, um sich zwischen die streitenden Hengste zu drängen und Clyve zur Rede zu stellen.

Joe am Boden hustete erleichtert und zog ein blutiges Rinnsal schniefend hoch, das ihm aus den Nüstern geronnen war. Aus dankbaren, blauen Augen blickte er Jess für einen weiteren Moment an, bevor er sich von Luke und Debbie zurück auf die Hufe helfen und in Sicherheit bringen ließ.

A3360 - Lehren der VergangenheitWo Geschichten leben. Entdecke jetzt