Kapitel 29 - Die Sorgen eines Vaters

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"Achtung, das könnte gleich ein wenig piksen", warnte Jess Experiment B37, eine pechschwarze Stute mit einem winzigen Stern auf der Stirn vor. Die Stute zitterte leicht, schenkte Jess jedoch ein aufmunterndes Lächeln, als diese die kleine Spritze wieder unter ihrem Fell hervor zog und sie dann zur Seite legte. 

"Danke", schnaubte sie erleichtert, als Jess ihr einen Tupfer auf die Stelle an ihrem Hals presste, um die Blutung zu stoppen. "Ich hoffe, dass das Fieber bald vergeht. Mich fröstelt es schon mehrere Tage und es wird einfach nicht besser."

"Ich bin mir ganz sicher", entgegnete Jess mit freundlich gespitzten Ohren. "Wenn Sie sich schonen und viel trinken, sollte das den Viren bald den Garaus machen. Wir sollten trotzdem dafür sorgen, dass Sie niemanden anstecken, deshalb empfehle ich, dass Sie noch drei Tage auf der Krankenstation verbringen."

Jess stellte der Stute ein Glas mit einer Tablette vor die Nase, welches diese dankbar annahm und die Tablette mit einem großen Zug hinunter spülte. 

"Bitte, nennen Sie mich Nina. Hier unten vergisst man so leicht, wer man eigentlich ist, wenn alle einen nur mit seiner Nummer ansprechen. Aber Sie sind anders. Sie sind wirklich freundlich. Nicht so, wie die Wissenschaftler. Lassen Sie sich bitte nicht von ihnen verändern."

Jess blickte nachdenklich drein, als sie das Glas wegstellte und der Stute dann eine wärmende Decke über die Schultern legte. Das merkte Nina natürlich, trotz, dass Jess sich alle Mühe gab, sich nichts anmerken zu lassen.

"Sie sind doch die Freundin vom jungen Higgins, nicht wahr?", schnaubte Nina vorsichtig. Jess hielt einen Moment inne, bevor sie zu einer Antwort ansetzte.

"Ach, ich weiß auch nicht so recht, was ich eigentlich bin."

Nina wackelte amüsiert mit den Ohren. "Für mich sind Sie etwas Besonderes. Sie heben sich aus der Masse ab. Ich kann verstehen, warum alle immer so positiv von Ihnen sprechen."

Jess drehte der Stute hinter ihr den Kopf zu. "Wie meinst du das, Nina?"

"Du bist Hoffnung für mich. Ich bin schon so lange hier unten und habe noch nie ein so freundliches Pferd getroffen. Selbst der gute Mr. Kilbourne ist so distanziert zu uns, obwohl er ein wirklich nettes Pferd zu sein scheint."

"Das ist er wirklich!", schnaubte Jess, überrascht von der Tatsache, Conor offenbar nicht zu jedem so freundlich und aufgeschlossen war, wie zu ihr. Er war wirklich sehr ambitioniert, die Auflagen seines Vorgesetzten zu erfüllen, obwohl er doch auch gerne manchmal über das Gesetz hinaus ging. Sie erinnerte sich noch zu gut daran, als er sie, ohne große Fragen, aus dem Labor hatte schleusen wollen.

"Wissen Sie, mir geht es wirklich schon viel besser, seit sie mir die Herzprothese eingesetzt haben. Ich hatte einen angeborenen Herzfehler und wäre höchstwahrscheinlich irgendwann daran gestorben, wenn ich mich nicht hierfür habe eintragen lassen. Ich frage mich nur, wann sie mich wieder gehen lassen. Sie sagen, dass sie die Funktion noch eine Weile beobachten wollen, aber das ist nun auch schon wieder zwei Jahre her. Und nun wurde ich nach hier unten verlegt..."

"Aber du bist doch freiwillig hier, oder nicht?", schnaubte Jess verwundert. Nina wollte gerade antworten, da wurde die Tür zum Behandlungszimmer aufgestoßen und Professor Higgins trat mit zwei weiteren Wissenschaftlern im Gefolge ein.

"Fertig?", fragte er griesgrämig, woraufhin Jess schüchtern nickte. Auf ein Nicken des Professors hin, packten die Wissenschaftler Nina grob an der Mähne und zerrten sie aus dem Behandlungszimmer zu ihrer Zelle zurück. 

"Halt! Sie sollte noch ein paar Tage auf der Krankenstation ruhen!", wieherte Jess ihnen hinterher, wurde jedoch einfach ignoriert. Seufzend entschloss sich Jess dazu, der Stute später noch eine warme Decke in die Zelle zu bringen, damit sie es sich dort noch etwas bequemer machen konnte.

"Sie haben nicht zufällig meinen Sohn gesehen?", riss Professor Higgins sie aus ihren geheimen Plänen heraus.  Jess nickte zuerst gedankenverloren, doch dann schüttelte sie vehement den Kopf. 

"Nein, ähm", stammelte sie. "Zumindest nicht seit dem Wochenende."

Professor Higgins machte ein nachdenkliches Gesicht und wenn er sich hinter dem Kopf hätte kratzen können, so hätte er es sicherlich in diesem Moment getan. 

"Äußerst merkwürdig", brummte er leise. "Ich habe ihn weder auf dem Festnetz, noch auf seinem Mobiltelefon erreicht. Und zu Hause scheint er auch nicht zu sein. In seinem Briefkasten stauen sich die Zeitungen. Ich dachte womöglich, dass er bei Ihnen untergekommen ist, aber da war ich wohl auf dem Holzweg."

"Clyve ist verschwunden?", rutschte es Jess unerwartet heraus. Sie hatte sich zwar gedacht, dass sie etwas überreagiert hatte, als sie ihm eine solche Abfuhr verpasst hatte, aber für die Tatsache, dass er nun fort war, gab sie sich die Schuld. Wahrscheinlich hatte er ihr nicht über den Weg laufen wollen, doch dass er auch zu Hause nicht war, jagte ihr einen gewaltigen Schrecken ein. 

"Drei Tage schon", schnaubte Professor Higgins mit trockenem Hals. "Er war am Freitag ganz aufgebracht, als er zur Arbeit kam. So habe ich ihn noch nie erlebt. Hatten Sie Streit?"

"So könnte man es ausdrücken", murmelte Jess niedergeschlagen. Ihr schlechtes Gewissen brachte sie irgendwann noch um. Und vor allem, was würde der Professor sagen, wenn er heraus fand, dass sie das Herz seines Sohnes in zwei Hälften gerissen hatte und daraufgetreten war?

"Schon in Ordnung",  Jess traute ihren Ohren nicht, als der Professor nur mit den Schultern zuckte. "Junge Pferde streiten sich doch andauernd. Der einzige, dem diese unglückliche Angelegenheit zu Schulden kommt, ist Clyve. Solch ein kindisches Verhalten kann und werde ich nicht dulden! Ich kümmere mich darum, machen Sie sich keine Sorgen!"

Keine Sorgen sollte sie sich machen? Der Professor hatte gut Reden. Clyve bedeutete ihr schließlich noch etwas. Und nach allem, was er in seinem Leben bereits durchgemacht hatte, war sie nicht der Auffassung, dass "keine Sorgen machen" in diesem Fall die richtige Option war. Letzten Endes war er es gewesen, der seine Mutter nach ihrem Selbstmord gefunden hatte und damit den Grundstein für etliche weitere psychologische Probleme gelegt hatte. 

Jess verbrachte trotzdem noch den Rest des Tages im Labor, obwohl ihre Gedanken an einem ganz anderen Ort waren. Selbst, als sie den weißen Hengst untersuchte, der neulich ins Labor gebracht worden war, fiel ihr nicht einmal auf, dass dieser ganz plötzlich ungewöhnlich still, beinahe teilnahmslos blieb.

Der erste Weg, den ihre Hufe sie nach Feierabend trugen, war der zu Clyves Haus. Doch genau, wie der Professor es prophezeit hatte, stapelten sich Zeitungen vor der Haustür und im Inneren regte sich nichts. Clyve war weder auf seiner Terrasse, noch im Garten, noch war er irgendwo on seinem Haus zu erspähen, als Jess durch die verglasten Scheiben blickte, die auf die Terrasse hinaus führten.

Jess wollte gerade gehen, als ihr der gelbe Zettel auffiel, der durch den Regen der letzten Nacht ganz aufgeweicht worden und vom Wind offenbar in die Hecke zum Nachbarsgrundstück geweht worden war. Ein Zettel, der offenbar mit einem Klebestreifen an einer der Scheiben, hinten an der Terrasse befestigt gewesen war. 

Mit klopfendem Herzen, zog Jess den Zettel aus dem Gebüsch und entfaltete ihn vorsichtig mit ihren Hufen. Doch als sie las, was darauf geschrieben stand, blieb ihr Herz fast stehen. Es waren nicht viele Worte, die er ihr hinterlassen hatte, doch ihre Aussage war eindeutig. 

"Es tut mir leid, Jess. Suche nicht nach mir. Ich möchte nicht, dass du die selbe Erfahrung machst, wie ich damals. Ich liebe dich."


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Vielleicht ist es einigen Leuten aufgefallen, dass ich einen Fanfiction-Charakter in diese Story mit eingebaut habe ;D Nina gehört zu Akira_Drowned und ihrer Fanfiction "Die Rückkehr von Clyve Higgins". Allerdings war sie in der Fanfiction kein Experiment ;D Jetzt ist sie eins und ich habe ihren Charakter mit dem Herzfehler etwas angepasst :D ich hoffe, das ist in Ordnung ;D

A3360 - Lehren der VergangenheitWo Geschichten leben. Entdecke jetzt