Kapitel 2 - Schwesternbande

1.4K 93 97
                                    

Es war wie die Ruhe vor dem Sturm. Nur, dass die eigentliche Ruhe bereits der Sturm war und der geplante 'Sturm' wahrscheinlich wesentlich ruhiger war, als der, in dem Jess und Debbie sich nun befanden. Kleidungsstücke lagen überall auf dem Boden verstreut, hingen über Stühlen und Tischen, Ketten und Haarbänder tapezierten die Bettdecke in Debbies altem Kinderzimmer. Es sah wirklich aus, als hätte eine Bombe eingeschlagen.

Unschlüssig stand Jess vor dem Kleiderschrank, völlig ahnungslos, wie sie sich jemals entscheiden können würde, was für diesen Abend das Richtige war. Ihre Schwester sah es anscheinend eher locker und kleidete sich flott, aber schick in eine dunkelblaue Decke mit kleinen, glitzernden Goldschleifchen in der Mähne, die perfekt zu ihrem roten Haar passten.

Manchmal wäre Jess froh gewesen, kein so langweiliges, braunes Fell zu haben. Das rote Fell ihrer Schwester hatte einfach so viele Facetten und Möglichkeiten, die ihr völlig verschlossen blieben.

„Ihh, nicht rosa! Spinnst du?", maulte Debbie sie an. „Du willst doch nicht aussehen wie ein Schokotörtchen mit Erdbeereis!"

"Wenn ich darurch das "Prädikat süß" erhalte, warum nicht?", murrte Jess verständnislos.

Debbie täuschte schaudernd einen Würgereiz vor: "Hier! Nimm das ! Ich glaube das steht dir besser!"

Debbie zog eine helle, pastellgelb gemusterte Decke aus ihrem Schrank, legte eine goldene Kette mit Perlenanhänger dazu und begann dann, Jess Mähne mit gelben Blüten aus dem Garten einzuflechten.

Als Jess sich nach dem gemeinsamen Schwestern-Styling vor dem Spiegel betrachtete, fiel ihr die Kinnlade beinahe herunter.

„Das sieht toll aus!", staunte sie. „Debbie! Das, das ist wundervoll! Hast du schon einmal daran gedacht, das beruflich zu machen?"

„Was denn?", fragte ihre Schwester verwundert.

„Ausstatterin oder Maskenbildnerin. Für Hochzeiten und wichtige Events! Du hast wirklich das Zeug dazu!"

Debbie lächelte sanft und sah dann zu Boden. „Ach, da kommen doch eh nur die ganz guten wirklich weit. Ich wette, ich werde nicht einmal aufgenommen, wenn ich mich dafür bewerbe."

„Wenn du es nicht versuchst, wirst du es nicht herausfinden", lachte Jess, während sie ihre Tasche packte. Sie war noch nie im Orion gewesen. Man sagte, dass es einer der angesagtesten Clubs für Studenten in der Stadt war. Aber genau aus diesem Grund hatte sich Jess davon immer ferngehalten. Sie zählte sich nicht zur Zielgruppe der eskapadenliebenden, unreifen Früchtchen, die ihre Freizeit mit Komasaufen und hirnlosem Gegröle vertrieb. Sie hatte andere Werte. Vielleicht mochte sie deshalb eine Spaßverderberin sein, aber sich so gehen zu lassen, hatte sie einfach nicht nötig.

Debbie trat strahlend an die Seite ihrer großen Schwester heran, bereit zur Abreise. Jess spürte, wie aufgeregt sie war. Was Debbie sich genau von diesem Abend versprach, konnte Jess nur erahnen. Wahrscheinlich hoffte sie insgeheim, einen hübschen Studenten abkrallen zu können. Wer konnte es ihr verübeln?

'Sie kann ja Clyve haben', lachte Jess in sich hinein. Vom ersten Eindruck her schien er ein ziemlich arroganter Flegel zu sein, der zu viel Selbstvertrauen und zu wenig Verantwortungsbewusstsein hatte, um ein ganzes Studium am Stück durchzuziehen. Aber wie zum Kuckuck hatte er es dann ins sechste Semester geschafft?

Jess Gedanken verloren sich, als die Schwestern vor den Toren des Orion standen. Gewaltige Lichtkegel, strahlten in den Himmel hinauf und streichelten die Wolkendecke. Und noch während Jess das Schauspiel in den Wolken betrachtete, schob sich der Schatten eines riesigen, muskulösen, pechschwarzen Kaltblutes mit dichtem Fesselbehang zwischen sie und den Himmel.

A3360 - Lehren der VergangenheitWo Geschichten leben. Entdecke jetzt