Kapitel 18 - Freude und Enttäuschung

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"Kommen wir nun zu dem Teil des Abends, auf den Sie womöglich bereits alle sehnlichst gewartet haben", setzte der Rektor der Universität an, um zur Zeugnisvergabe überzugehen. Jess Herz schlug Purzelbäume. Professor Sullivan hatte sie mehr, als nur verunsichert. Was hatte dieser Kerl nur an sich, dass sie ihn mit jedem Mal weniger leiden konnte, das sie ihm begegnete?

"Abbey, Angelica", der Rektor begann nun einzelne Studenten aufzurufen, um ihnen ihre Zeugnisse zu überreichen. Eine weiße Stute mit braunem Langhaar trat nach vorn. Ihr Fell hatte dunklere Sprenkel und auf den ersten Blick kam sie auf Jess nicht besonders sympathisch herüber. Aber immerhin schien sie keine besonders bemerkenswerten Leistungen erbracht zu haben, denn sie schritt ohne weiteren Wortwechsel mit dem Rektor mit einem selbstgefälligen Lächeln wieder von der erhöhten Ebene des Rednerpults herunter, warf Clyve einen Luftkuss zu und stellte sich dann an ihren Platz, an dem sie sich alle später zum großen Jahrgangsfoto einfinden sollten. 

Wahrscheinlich auch eine von diesen Triple Alpha Gören, dachte sich Jess und bemühte sich genervt, die Existenz dieser Stute sofort wieder aus dem Kopf auszuradieren. 

Es waren nicht besonders viele Studenten übrig geblieben von den dreihundert, die anfänglich mit ihr zusammen begonnen hatten. Klar, das Medizinstudium war hart und erforderte viel Büffeln mit Disziplin, aber wenn man ehrgeizig genug war und keine Hobbies außerhalb der Lesungen hatte, dann war es eigentlich ganz leicht zu stemmen. Das Problem war nur, dass man nach den endlosen Lernphasen nach Abschluss der Klausuren überhaupt nichts mit sich anzufangen wusste. Und an diesem schrecklichen Punkt befand sich Jess nun schon seit mehr als zwei Wochen.

"Cherrington, Ralph! Er erhält eine Belobigung für ausgezeichnete Leistungen im Fach Physik."

Ein Physiker. Toll. Dieser junge Rappe, der nun auf die Bühne schritt würde sicherlich bestens im Prothesenbau aufgehoben sein. Jess Blick wanderte zu Clyve nach vorne, der nur drei Pferde vor ihr stand. Doch der rührte sich nicht und lauschte nur konzentriert der Zeugnisvergabe.

"Eastwood, Lyn. Sie erhält einen Preis für ihr sozialen Engagement."

Angehende Psychologin oder Gruppentherapeutin. Dachte Jess seufzend. Irgendwie war es beruhigend, sich auszumalen, was aus ihren Kommilitinen einst werden würde, auch, wenn sie selbst noch nicht so recht wusste, wo sie landete, wenn sie fertig war.

Die nächsten Zeugnisvergaben vergingen im Flug und als die Stimme des Rektors "Higgins, Clyve Damian", aufrief, war an seinem äußerst erfreuten Tonfall sofort zu erkennen, dass Clyve nicht nur eine außerordentliche Leistung erbracht hatte, sondern zusätzlich noch alle Maßstäbe gebrochen hatte.

"Unser bester Student des Jahrgang mit der vollen Punktzahl in allen Fachgebieten von Chemie über Physik, bis hin zur Mathematik. Er absolvierte während des Studiums ein Praktikum bei den Hancester Science Laboratories, was ihm einen Preis für außerordentliches Engagement außerhalb des Studiums und etliche Verrechnungspunkte im Plus beschert. Er erhält außerdem Preise für exzellente Leistungen in allen Fächern, sowie den Geldpreis für den besten Studenten des Jahrgangs, um ihm den Einstieg in das weiterführende Studium zu erleichtern."

Clyve schritt mit einem Honigkuchenpferdelächeln nach vorn, doch Jess war im Moment gar nicht nach Lachen zumute. Ihr Bauch schmerzte so sehr vor Enttäuschung, dass sie meinte, nie wieder in ihrem Leben etwas essen zu können, ohne sich gleich darauf über ein unerwartetes Wiedersehen freuen zu können. 

Sie würde den ganzen Sommer über arbeiten müssen, um das Geld für den Studiengang zusammen zu kratzen. Sie würde ihr Auto verkaufen müssen. Ihre Eltern würden wieder ihr Erspartes anrühren müssen. Sie konnte gar nicht in Worte fassen, wie tief traurig sie nun war. 

A3360 - Lehren der VergangenheitWo Geschichten leben. Entdecke jetzt