Kapitel 6 - Durch die Blume

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Jess hatte ein furchtbar schlechtes Gewissen, Clyve eine solche Abfuhr gegeben zu haben. Selbst, als sie sich bei Sonnenschein zum Lernen auf der großen Liegewiese niedergelassen hatte, kreisten ihre Gedanken noch immer um den tieftraurigen und enttäuschten Blick, den der blonde Hengst ihr zugeworfen hatte. Seine Augen schienen, wenn er traurig war, sogar noch blauer zu werden.

Stetig redete Jess sich ein, das Richtige getan zu haben. Aber ihr schlechtes Gewissen brachte sie schier um ihren Verstand. Als sie es einfach nicht mehr aushielt, packte sie ihre Siebensachen, um nach Hause zu ihren Eltern und ihrer Schwester zu fahren.

Als Jess erschöpft und schlecht gelaunt die Haustür hinter sich schloss, fiel ihr sofort der Mantel an der Garderobe auf, der Joe gehörte. Das bedeutete, dass ihre kleine Schwester wieder einmal Besuch hatte. Joe hatte nach zwei Monaten Beziehung bereits etliche Hausrechte in Anspruch genommen. Inklusive Hausschlüssel und Zahnbürste in dem Bad, das sie und ihre Schwester sich teilten.

Andauernd hing der rothaarige Junghengst mit Debbie zusammen, sodass Jess es nicht verwunderte, dass er auch heute wieder hier war. Ein schlechteres Timing wäre auch nicht möglich gewesen.

"Wo sind Mom und Dad?", wieherte Jess knurrig in den Hausflur, bis sie die ertappte, stotternde Stimme ihrer Schwester aus ihrem Zimmer vernahm.

"Äh, bei Grandma? Wolltest du nicht lernen?"

Jess seufzte genervt, bevor sie in die Küche trottete.

"Mom hat dir was zu Essen im Kühlschrank kaltgestellt!", erklang die gedämpfte Stimme ihrer Schwester dann im Gang. "Sie sagt, du müsstest es nur noch aufwärmen."

Jess öffnete wortlos den Kühlschrank und fand ein Schüsselchen der leckeren Reispfanne ihrer Mutter, wie Debbie es prophezeit hatte. Wenigstens ein positives Ereignis an diesem Tag. Doch die bloße Tatsache, dass weder ihre Mutter, noch ihre Schwester und - Gott bewahre - nicht einmal ihr Vater zum Reden hier waren, ließ Jess in ein tiefes Loch aus Selbstverachtung stürzen.

Lustlos knallte Jess die Schüssel auf den Küchentisch und begann, die kalte Reispfanne lustlos in sich hinein zu stopfen. Schokolade wäre jetzt gut, dachte sie. Aber die hatte ihre Mutter seit ihrem ersten Liebeskummer entgültig aus den Küchenschränken verbannt. Jess hatte Wochenlang nichts anderes in sich hineingestopft und irgendwann hatte sich das nicht nur auf der Waage bemerkbar gemacht. Dieses Dilemma wollte definitiv nicht noch einmal Einzug in das Haus der McLarens machen, das hatte sich Dita McLaren damals geschworen.

Kurze Zeit später vernahm Jess Schritte auf der Treppe, als ihr plötzlich die feuerrote Stehmähne von Joe im Augenwinkel auffiel. Er hatte wohl gehofft, dass sie ihn nicht bemerken würde, was jedoch ein Irrtum war. Als Joes Blick sich mit dem von Jess kreuzte, wendete er beschämt den Kopf ab, zog seinen Mantel über und verabschiedete sich dann flüchtig von Debbie, bevor er fluchtartig das Haus verließ. Erwischt! Jess war beinahe ein bisschen schadenfroh.

"Na? Beweise beseitigt?", fragte Jess beiläufig, als Debbie an den Küchenschrank ging, um sich ein Glas Wasser einzuschenken. Ihre Schwester würdigte sie keines Blickes.

"Was für Beweise?", fragte sie mit engelsgleicher Unschuld in ihrer Stimme.

"Die, die man unter dem Schwarzlicht von Dads UV-Lampe sieht", grinste Jess nur. Debbie streckte ihr die Zunge heraus, bevor sie sich am Küchentisch gegenüber von ihr nieder ließ.

"Das funktioniert nur, wenn man eine bestimmte Indikatorsubstanz aufträgt und die wird Dad ja wohl nicht auftreiben! Ich hab das gegoogled", noch bevor Debbie zu Ende gesprochen hatte, bemerkte sie wohl, dass sie sich gerade selbst verraten hatte und trank daraufhin ihr Glas in einem Zug aus.

A3360 - Lehren der VergangenheitWo Geschichten leben. Entdecke jetzt