Clyve hatte es offenbar gut getan, über seine verdrängte Vergangenheit zu sprechen. In den darauf folgenden Wochen war er viel aufgeschlossener und weniger geheimniskrämerisch, wenn Jess ihn Dinge über seine Familie fragte.
Und wenn er nicht gerade auf der Arbeit war, verbrachten die beiden jede freie Minute zusammen. Jess liebte den konzentrierten Blick auf seinen blauen Augen, wenn er versuchte, sie zu zeichnen, dabei hin und wieder prüfend die Augen zusammen kniff und schließlich das Gesehene aufs Papier brachte.
Er war so talentiert. Jess musste sich eingestehen, dass es ihr etwas peinlich war, ihn bei ihrer ersten Begegnung so oberflächlich abgestempelt zu haben. Hinter ihm verbarg sich einfach noch so viel mehr, als nur der faule Student, hinter dem die Stuten her rannten, wie einem Schauspieler, der einen Spaziergang durch die Stadt machte.
Ja, es schien fast so, als sei er nicht einmal besonders stolz darauf, von allen so angehimmelt zu werden. Viel wichtiger war es ihm offenbar, dass Jess mit ihm glücklich war. Dabei blickte er nicht ein einziges Mal einer fremden Stute hinterher, geschweige denn, redete mehr mit ihr als nötig, wenn er angesprochen wurde.
Auch das gab Jess eine Sicherheit, die sie noch nie zuvor empfunden hatte. Ihre alten Freunde hatten immer wenigstens ein paar freche Worte mit anderen Stuten gewechselt. Man konnte es beinahe schon als flirten bezeichnen. Und schließlich sind sie ihr alle für ein anderes Mädchen davon gelaufen, um dessen Herz zu brechen. Was sie nun machten, wusste Jess nicht. Aber sie hoffte inständig, dass sie inzwischen eine Beziehung gefunden hatten, in der sie sich wohl fühlten. So wie sie mit Clyve.
Jess war so in Gedanken versunken, dass sie gar nicht bemerkte, wie sich bereits ihre Mitstudenten auf dem Jahrgangsabschlussball sammelten, um ihre Zeugnisse der Reihe nach entgegen zu nehmen. Mit vor Aufregung klopfendem Herzen, gesellte sie sich zu ihren Kommilitonen, um der Rede des Leiters der Princeton University zuzuhören, der zu seiner Rede ansetzte.
Dass sie die Abschlussprüfung bestanden hatte, wusste sie bereits. Und das mit einem sagenhaften Schnitt von 1,0. Sie ärgerte sich beinahe über den einen Punkt, der ihr in der Arbeit noch zur vollen Punktzahl gefehlt hatte. Aber man konnte eben nicht alles haben und schließlich änderte es nichts daran, dass sie dafür mit großer Sicherheit den Geldpreis für die Jahrgangsbeste Studentin absahnen würde. Eins blieb eins. Da machte der eine fehlende Punkt den Kohl nicht fett.
Mit dem Geld konnte sie sich dann den Einstieg in das Masterstudium leisten. Ansonsten würde es knapp werden, mit ihrem Ersparten, denn ein Studium war teuer. Sie hatte diese Unterstützung bitter nötig, denn ihre Familie war nicht besonders reich. Aber es machte nicht den Anschein, als ob ihr irgendjemand den Titel für die Jahrgangsbeste streitig machen konnte.
Man hatte sie sogar bereits gebeten, eine Rede vorzubereiten, da sie wohl einen Preis für außerordentliche Leistungen im Themengebiet Neurologie erhalten würde. Doch genau das war der Knackpunkt, der ihr Herz gerade zu Höchstleistungen antrieb.
Als sie jemand vorsichtig an der Schulter berührte, drehte sich Jess in freudiger Erwartung um, ihren Freund zu erblicken. Doch hinter ihr stand nur dessen gruseliger Psychologieprofessor, der sich durch die Menge der Studenten quetschen wollte. Er hielt jedoch kurz inne, als seine grauen Augen sie zu erkennen schienen.
"Ach, wir kennen uns doch", schnaubte er erfreut. "Zwar nur einmal kurz und das leider nicht in meinem Kurs, aber wir kennen uns. Jessica McLaren! Sehr erfreut!"
"Richtig. Professor Sullivan, nehme ich an?", schnaubte sie freundlich, versuchte sich dabei aber nicht anmerken zu lassen, dass sie eigentlich überhaupt keine Lust auf ein Gespräch mit dem komischen, alten Kauz hatte.
"Und? Aufgeregt?", die Frage des Professors kam unerwartet, doch Jess nickte nur seufzend und ließ die Ohren hängen.
"Wie verrückt", schnaubte sie zitternd. Sie wäre dem Professor äußerst dankbar gewesen, wenn er sie von der allgemeinen Situation abgelenkt hätte, anstatt sie noch weiterhin mit der Nase darauf zu stoßen.
"Keine Sorge. Falls du bei Rede kurz den Faden verlierst - Die meisten vergessen das innerhalb von drei Minuten wieder", der Professor zog unbeeindruckt eine Zigarre aus dem Jackett. Der Psychologie-Profi hatte gesprochen!
Jess huschte ein Lachen übers Gesicht, wenn auch sie der Gedanke, sich in ihrer eigenen Rede zu verstricken, beinahe in den Wahnsinn trieb. Der Professor schien wohl eine äußerst unorthodoxe Auffassung von der Beruhigung von Pferden zu haben. Sie konnte sich nicht entscheiden, ob sie der Gedanke aufheitern oder niederschlagen sollte.
"Ich bin nicht besonders gut darin, Pferde aufzubauen", schnaubte er dann, als hätte er ihre Gedanken gelesen. Jess versuchte, herzhaft zu lachen, doch es gelang ihr nicht. Dafür erntete sie sogleich einen skeptischen Blick des Professors, der sie mit einer hochgezogenen Braue anvisierte. Jess schoss das Blut in den Kopf, während sie krampfhaft versuchte, so zu wirken, als wäre sie ruhig und locker. Warum musste dieser Kerl auch ausgerechnet jetzt auftauchen und sie mit seinem belanglosen Geplänkel auf die Folter spannen?
"Mädel, entspann dich doch mal", der Professor versetzte ihr einen sanften Stoß mit dem Vorderhuf. "Jesses Maria! Du tust ja fast so, als würdest du Godzilla gegenüber treten. Nach diesem Tag fragt in zwei Jahren niemand mehr. Außer vielleicht deine Eltern, deine Familie, deine Freunde..."
Jess strafte den Professor mit einem fiesen Mörderblick des Todes, woraufhin dieser sich räusperte und seine Fliege wieder etwas zurecht rückte. In Gedanken formte sie ein stilles 'Verpissen Sie sich endlich!', welches sie jedoch nicht laut aussprach. Das wäre gegenüber eines Professors gar nicht angebracht gewesen. Obwohl man in diesem Falle sicher eine Ausnahme hätte machen können.
"Hach ja, ich glaub, ich mach mich dann mal vom Acker", schnaubte Professor Sullivan darauf jedoch, beinahe beleidigt. Sein Blick glitt zu einer Gruppe junger Hengste der Studentenverbindung Gamma Chi Theta, die bereits sturzbetrunken waren und begannen, sich an ein paar Triple Alpha Stuten heran zu machen. Die fanden das offenbar unheimlich witzig, weshalb sie es sich gefallen ließen, während des Aufstellungsprozesses laut zu kreischen und zu kichern. Was für eine peinliche Bande.
"Hier sind mir zu viele Vollpfosten unterwegs."
Na, das konnte er laut sagen. Jess warf einen kurzen Blick zu dem Tisch, an dem ihre Eltern zusammen mit Debbie saßen und noch dem Vorredner bei seiner unglaublich langweiligen Rede lauschten. Eigentlich erinnerte sie alles an dieser Veranstaltung an ihren Abschluss an der High School.
"Ach ja", schnaubte der Professor, der auf dem Weg zur Tür mit der Zigarre im Maul noch einmal kehrt gemacht hatte. "Richte deinem Freund meine Glückwünsche aus. So eine Leistung erbringt nicht jeder. Und das, obwohl er die Kohle nicht mal nötig gehabt hätte..."
Mit diesen Worten ließ er Jess einfach alleine da stehen. Was hatte er damit gemeint? Welche Kohle hatte Clyve nicht nötig? Die des Preises für den Stufenbesten ganz gewiss nicht. Jess hatte noch nie einen Studenten gesehen, der so wenig für seinen Abschluss gelernt hatte. Da musste sich der Professor wohl geirrt haben.
Clyve, der ein paar Studenten vor ihr in der Aufstellung stand, blickte sich nach ihr um, um ihr ein aufmunterndes Lächeln zu schenken. Sein heiteres Strahlen spendete Jess neue Kraft und etwas Mut. Das, was sie gerade im Augenblick so bitter nötig gehabt hatte.
Konnte der Professor wirklich recht haben? Dass Clyve sie auf der Zielgeraden überholt hatte. Mit nur einem Punkt Vorsprung? Nein, das war unmöglich. Oder etwa doch?
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A3360 - Lehren der Vergangenheit
Ficção AdolescenteACHTUNG: Diese Geschichte ist verfasst als eine Art Fabel, in der alle Hauptcharaktere als Pferde dargestellt sind.Ihr Verhalten ist jedoch soweit vermenschlicht, dass die Story jederzeit auf Menschen umgeschrieben werden kann. Es handelt sich hier...