Kapitel 7 - Brausekribbeln

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"Ja und - was machen wir dann jetzt den ganzen Abend?", fragte Jess skeptisch, die ihre Schwester dabei beobachtete, wie diese seelenruhig ihren Laptop auf dem Wohnzimmertisch aufstellte und sich dazu eine Packung Kekse aufmachte. "Schließlich warst du es, die entschieden hat, dass ich heute schon etwas vorhabe."

"Was denkst du denn?", lachte Debbie nur. "Ich habe mit keinem Wort behauptet, ihn angelogen zu haben, als ich ihm weisgemacht habe, dass du mir bei meiner Bewerbung hilfst."

"Ach, tue ich das?", Jess stieß ein überraschtes Schnauben aus, als sie sich zu ihrer Schwester gesellte. "Sag bloß, du willst es wirklich versuchen?"

Mit einem freudigen Strahlen auf den Augen lächelte Debbie ihre Schwester an. "Ein paar Unis bieten es an. Es soll angeblich total schwer sein, einen Job in der Branche zu bekommen, aber mit deiner Hilfe und einem genialen Umstyling krieg ich das in nullkommanix hin!"

"Das ist die richtige Einstellung!", wieherte Jess stolz. Dann wurde sie sich bewusst, was ihre Schwester soeben gesagt hatte.

"Wa-wa-warte! Umstyling?"

Doch da hatte Debbie auch schon begonnen, ihr die Mähne einzuflechten. 

Es wurde ein recht lustiger Abend mit vielen Keksen, schnulzigen Liebesfilmen und Geschichten aus ihren Kindertagen. Jess hatte irgendwie das Gefühl, dass sie ihrer Schwester noch nie so nahe gewesen war, wie in den letzten drei Monaten. Die fuchsfarbene Stute hatte sie so oft in den puren Wahnsinn getrieben, dass sie sich oft bereits gefragt hatte, ob Debbie nicht im Krankenhaus vertauscht worden war und ihre richtige Schwester ein ganz liebenswertes Stütchen war, das irgendwo bei einer anderen Familie gelandet war. Aber nun wollte sie ihre Schwester nie wieder missen müssen. 

Nachdem die Referenzfotos für Debbies Bewerbung geschossen waren, machten sie sich an das Anschreiben mit ihrem Lebenslauf und als sie beide zufrieden waren, wurde Debbies erste offizielle Bewerbung an drei Universitäten ihrer Wahl verschickt. 

Jess wurde ein wenig mulmig dabei, als sie bemerkte, wie weit die Unis von ihrer Heimatstadt entfernt lagen. Doch solange ihre Schwester glücklich damit war, wollte sie sie unterstützen, wo es nur ging.

Trotzdem blieb sie weiterhin sehr nachdenklich, was die Sache mit Clyve anging. Als sie in dieser Nacht schlafen ging, schlugen ihre Gedanken Purzelbäume. Sie mochte ihn wirklich sehr, aber liebte sie ihn auch? Sie waren nun seit über einem Monat zusammen, aber irgendwie fehlte ihr das geweisse Etwas, was sie bei ihrer allerersten Beziehung empfunden hatte.

Liebe war so ein komplexes Gefühl, dass sie keine andere Stimmung damit vergleichen konnte. Es war wie eine Explosion aus Glück und Brause in ihrem Blut, die sie vor Freude beinahe überschäumen ließ. Aber im Moment empfand sie nicht mehr als Glück und Zufriedenheit. Da war kein aufregendes Brausekribbeln in ihr. Das irritierte Jess, denn sie gab sich wirklich Mühe, mehr in Clyve zu sehen, als einen netten Freund für lustige Stunden.

Vielleicht kommt das Gefühl ja noch, dachte sie, etwas verbittert, bevor sie die Augen schloss und einschlief.

Bereits am nächsten Tag bestätigte sich Debbies Annahme, dass ihre gestrige Aktion sie für den goldenen Hengst nur umso interessanter gemacht hatte. Doch dieses Mal hielt Clyve sich deutlich zurück. Wahrscheinlich hatte er gemerkt, dass Jess es nicht mochte, zu sehr eingeengt zu werden.

Deshalb fand das erste gesprochene Wort zwischen ihnen tatsächlich erst nach ihrer Lesung in Anatomie statt. Clyve sah beinahe aus, als hätte er die Nacht zusammen mit einem Poltergeist auf dem Dachboden eines Totengräbers verbracht. Jedenfalls rang er sich gähnend ein erschöpftes Lächeln ab, als er ihr nach der Lesung mit freundlich gespitzten Ohren entgegen trabte.

"Wow, warst du gestern die Nacht durchfeiern?", schnaubte Jess grinsend. "Die Augenringe stehen dir. Unterstreichen dein Einhorn."

Clyve schüttelte, peinlich berührt, den Kopf, um seine Abstehende Strähne vor Jess zu verbergen.

"Nee, nab wohl ein bisschen zu viel an dich gedacht", schnaubte er dann lächelnd, bevor er sich zu ihr nach vorne lehnte und sie sanft küsste. Jess schloss die Augen und erwiderte. Es tat irgendwie gut, wieder bei ihm zu sein. Vielleicht hatte sie das Brausekribbeln die ganze Zeit  nur übersehen und reagierte einfach über.

"Und? Erfolg gehabt bei der Bewerbung deiner Schwester?", fragte der goldene Hengst, als sie sich gemeinsam auf den Weg zur Liegewiese machten. Jess nickte und schüttelte dabei stolz ihren Hals mit der noch immer eingeflochtenen Mähne vom Vorabend. Sie war schon etwas zerzaust, weil sie darauf geschlafen hatte, aber das machte Jess gar nichts aus.

"Ja! Wir sind ganz fleißig gewesen!", schnaubte Jess. "Sie will Maskenbildnerin werden. Deshalb musste ich als Model hinhalten!"

"Na die Rolle steht dir wie angegossen", Clyve zuckte mit den Augenbrauen, woraufhin Jess ihm frech die Zunge heraus streckte.

"Dein Ernst? Ein unedleres Pferd mit einem so zottigen Fell wie meinem findest du auf der ganzen Welt nicht."

Clyve schnaubte daraufhin bloß und lachte leise in sich hinein. Inzwischen waren sie an der Liegewiese angekommen und machten es sich im weichen, duftenden Sommergras nebeneinander bequem.

"Was gibt's da zu lachen?", wieherte Jess, gespielt hysterisch. "Ist doch so!"

"Du siehst nicht, was ich sehe. Ganz einfach", Clyve schenkte Jess dabei einen so verliebten Blick, dass ihr Herz einen Moment etwas höher schlug. Es waren nur ein paar Worte, doch sie waren mit einer solchen Ehrlichkeit gesprochen worden, die Jess in all den Jahren noch nie bei einem anderen Pferd wahrgenommen hatte.

"Und was siehst du?", fragte sie verspielt. Eigentlich erwartete sie keine Antwort darauf, aber sie war gespannt, ob der blonde Hengst auf diese Frage auch eine so clevere Antwort parat hatte.

"Alles", erwiderte Clyve bloß. "Einfach alles."

"Was soll das heißen - alles?", schnaubte Jess verwirrt. Was konnte er nur damit meinen? Clyve jedoch schien in dem, was er sagte, sehr sicher zu sein. Vorsichtig strich er ihr mit den Nüstern über die Wange, bevor er ihr tief in die Augen sah.

"Alles, was ich mir immer gewünscht habe. Alles. Einfach alles, Jess. Mein Traum, meine Wirklichkeit. Mein Herz."

"Oh mein Gott, das ist ja total süß", kicherte Jess, bevor sie ihren Hals an seinen drückte. So, wie bereits vor einigen Monaten. Wie schwer war es ihm wohl gefallen, diese Worte laut auszusprechen? Hengste taten sich doch ohnehin immer sehr schwer, ihre Gefühle in Worte zu fassen. Aber damit hatte Jess definitiv nicht gerechnet.

"Puh! Ich dachte schon, es wäre viel zu kitschig", keuchte Clyve erleichtert.

"War's ja auch", lachte Jess. "Total sogar! Aber irgendwie auch richtig süß."

In diesem Moment war es okay für Jess, bei ihm zu sein. Vielleicht verpürte sie auch so eine Art Brausekribbeln in ihrem Blut. Jedenfalls gab es keinen Ort, an dem sie gerade lieber gewesen wäre, als hier.

Und bevor sie sich versah, küssten sie sich wieder. Und wieder. Und wieder. Jess ließ sich mit diesem Gefühl in Clyves Arme fallen, denn in diesem Augenblick war einfach alles - Wunderbar.

A3360 - Lehren der VergangenheitWo Geschichten leben. Entdecke jetzt