Kapitel 8 - Geheimnisse

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Jess erwachte nach einem wunderschönen Filmeabend bei Clyve am nächsten Morgen neben ihm in seinen Armen. Wie genau es dazu gekommen war, dass sie bei ihm gelandet waren, wusste sie nicht mehr. Sie wusste nur noch, dass sie sich spontan dazu entschieden hatten, die restlichen Vorlesungen zu schwänzen und dass wohl eine Menge Alkohol im Spiel gewesen war.

Von dem Film, in den sie am Abend zusammen gegangen waren, hatten sie beide nicht sonderlich viel mitbekommen, so beschäftigt waren sie damit gewesen, die hinterste Reihe ganz für sich einzunehmen und sich pausenlos zu küssen. Ja - und das muss wohl auch der Grund gewesen sein, weshalb sie nun hier war. 

Jess hatte sich Clyves Studentenwohnung irgendwie immer etwas kleiner vorgestellt. Das Zimmer, in dem sie erwacht war, war jedenfalls größer, als die Wohnung ihrer Kommilitonin, Bella Sanders. Und die lebte im Studentenwohnheim. Ein Blick in die andere Richtung des Raumes verriet jedoch, dass das Zimmer noch einmal um einiges größer war. 

Das Zimmer war ganz kahl und undekoriert. Keine Bilder - keine Pflanzen. Weiße Wände umgaben das Bett, welches mittig an der Wand gegenüber der Tür stand. Ein einziger Kleiderschrank war noch in dem Zimmer. Sonst nichts. Wo waren sie denn hier?

Jess hob den Kopf und blickte sich um. Clyve an ihrer Seite schlief noch tief und fest. Beim Anblick seines zufriedenen, unglaublich niedlichen Lächelns auf seinem Gesicht, wurde Jess ganz warm ums Herz. Vorsichtig zog sie sich vom Bett - ganz langsam, bis sie mit allen vier Hufen am Boden stand. Dann zog sie Clyve die Decke wieder bis zu den Schultern hoch.

Wo war hier nur ein Badezimmer? Sie wollte den so friedlich schlafenden Hengst nicht wecken, also musste sie sich wohl selbst auf die Suche machen. Prüfend blickte sie sich in dem Zimmer um, das glücklicherweise nur eine Tür hatte, die sie ganz leise öffnen musste.

Bevor sie jedoch einen Schritt hinaus machen konnte, vernahm sie verschlafenes Grummeln hinter sich.

"Hm? Du willst schon nach Hause?"

Jess schnappte nach Luft. Nein! Sie wollte doch nicht einfach abhauen. Schließlich war das hier für sie doch irgendwie mehr, als nur ein One-Night-Stand. Und sie war keines dieser verlogenes Flittchen, das dann einfach am nächsten Morgen verschwand und nie wieder etwas von sich hören ließ.

"Nein, nein! Ich wollte dich nicht wecken", schnaubte sie entschuldigend. "Ich möchte nur ins Badezimmer."

"Die Tür raus und dann gleich links", gähnte Clyve, erhob sich und streckte alle Viere gleichermaßen, bevor er ein schmerzverzerrtes Grunzen von sich gab. "Bah, dieser scheiß Kater!"

"Wem sagst du das?", seufzte Jess, bevor sie ihrem Freund einen kleinen Guten-Morgen-Kuss gab und dann blitzschnell im Badezimmer verschwand. 

Die Spuren vom letzten Abend waren nur noch allzu gut sichtbar. Jess Mähne war fürchterlich zerzaust und ihre Augen hatten dunkle Ränder. Außerdem tat ihr alles weh. Vielleicht war es ganz gut, dass sie sich nicht mehr an alle Details der letzten Nacht erinnerte...

Vor dem Spiegel richtete sie deshalb ihre Mähne wieder zurecht, bis sie nicht mehr aussah, wie Godzilla im Nachtgewand, bevor sie sich das Fell glatt bürstete. So konnte sie wenigstens wieder nach draußen gehen, ohne befürchten zu müssen, dass man ihr ein Sondereinsatzkommando für entflohene Zootiere hinterher jagte.

Als sie fertig war und sich langsam durch die Badezimmertür wieder zurück schlich, strich ihr der wunderbare Duft von warmen Croissants um die Nase, der sie hinaus in die offene Wohnung lockte. Inmitten dieser stand ein gedeckter Frühstückstisch, der verführerische Düfte verbreitete. 

"Schon fertig?", rief Clyve scherzend aus der Küche. "Ich hatte mit dir nicht vor heute Abend gerechnet!"

"Sehr witzig!", schnaubte Jess lachend, während sie an den Tisch heran trat und genussvoll den Duft der frischen Brötchen und der herrlichen Marmelade in ihre Nüstern sog. 

"Greif zu! Sonst wird es kalt", schnaubte der goldene Hengst, der einen Teller mit Broccoli-quiche brachte und sie auf den Tisch stellte. 

"Ist das deine Wohnung?", wagte Jess zu fragen, als sie sich dankend ein Brötchen nahm und dieses mit der leuchtend roten Erdbeermarmelade bestrich. Clyve nahm einen großen Bissen von seinem Brötchen und nickte dann.

"Ja, ich mag es nicht, so eingeengt leben zu müssen. In so einer Studentenwohnung kommt man sich immer vor wie in einer Zelle", er schüttelte sich vor Abneigung. "Lieber würde ich mir den Hals umdrehen lassen, als Jahre in so einer Studentenwohnung verbringen zu müssen."

Jess schluckte erstaunt den ersten Bissen ihres Brötchens hinunter, bevor ihr Blick noch einmal durch die riesige, einstöckige Wohnung wanderte und schließlich wieder bei Clyve hängen blieb. 

"Bist du reich, oder so?"

Clyve nahm beiläufig die Zeitung an sich und begann lustlos darin herum zu blättern, während er antwortete. "Mein Vater ist Chef der Hancester Science Laboratories. Und wenn ich ihm sage, dass ich keinen einzigen, weiteren Kurs mehr besuche, wenn ich mein Leben eingepfercht in eine Abstellkammer verbringen muss, dann... naja. Du siehst es ja."

"Dein Vater ist was?!"

"Du kennst die Labors?", fragte Clyve erstaunt. "Das ist ungewöhnlich."

Was für eine Frage! Natürlich kannte Jess die berühmten Labore der Stadt Hancester. Schließlich entstammten diesem Ort eine Vielzahl der bahnbrechendsten Neurologischen Meilensteine der Medizingeschichte. Jess hatte gar nicht gemerkt, wie ihr die Kinnlade heruntergeklappt war.

"Was hast du denn?", fragte Clyve verwundert. Jess klappte den Mund wieder zu und atmete ein paar mal tief durch.

"Dein Vater arbeitet dann also für die Regierung?"

"Jap. Mit dem Präsidenten und der US Army zusammen. Entwickeln Waffen und besprechen Taktiken und so. Ich war schon ein paar mal dabei, aber die Spießer im weißen Haus verstehen echt überhaupt keinen Spaß. Denen steckt der Stock im Arsch bis zum Hals."

"Wie kannst du dabei nur so gleichgültig sein?", wieherte Jess entrüstet. "Bist du nicht stolz auf die Arbeit deines Vaters?"

Clyve pustete sich augenrollend eine Strähne von der Stirn. "Ja, richtig. Stolz. Stolz darauf, dass er meine Mutter verlassen hat, ohne ihr einen Cent zu hinterlassen und mir seither jeglichen Kontakt zu ihr verbietet, weil er es geschafft hat, den Richter zu bestechen. Er wollte unbedingt, dass ich bei ihm bleibe, um seine Arbeit fortzuführen, dieser Scheißkerl."

Jess schnappte entsetzt nach Luft, als sie Clyve so über seine Familie sprechen hörte. Hatte er denn überhaupt keinen Respekt vor seinen Eltern?

"Was ist mit deiner Mutter?", fragte sie vorsichtig. "Wo lebt sie denn?"

Clyve zuckte mit den Schultern, während er trotzig ein weiteres Mal in sein Brötchen biss. Diese Reaktion war bestimmt ein Schutzmechanismus, dachte Jess bei sich. Clyve schien die Trennung seiner Eltern sehr zu belasten, weshalb er sich selbst einredete, dass ihn das alles nach all den Jahren gar nicht mehr zu interessieren brauchte.

"Willst du darüber reden?", fragte Jess vorsichtig, trat ein wenig näher an Clyve heran und fasste seinen Huf mit ihrem. Der donnernde Herzschlag des Palominos drang ihr durch seine Brust entgegen und bestätigte Jess, dass sie mit ihrer Annahme richtig gelegen hatte.

"Vielleicht ein andernmal", schnaubte Clyve, sanft seinen Hals über den ihren legend. "Der Morgen ist viel zu hell für meine Dunkelheit."

Jess schloss zwar die Augen, doch die letzten Worte des Hengstes gingen ihr nicht mehr aus dem Kopf. Jess war sich sicher, dass Clyve etwas vor ihr verbergen wollte. Um sich zu schützen? Um sie in Sicherheit zu wissen? Sie wusste es nicht. Doch eins war sicher! Hinter Clyve verbarg sich eindeutig mehr, als sie zuerst angenommen hatte.


A3360 - Lehren der VergangenheitWo Geschichten leben. Entdecke jetzt