Kapitel 22 - Gerechte Strafe

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"Ihnen ist bewusst, dass Sie sich in einer staatlich kontrollierten Einrichtung befinden und wir demnach bereits mit den Vorzügen der Videoüberwachung vertraut sind?"

Jess und Conor standen wie belämmert hinter dem Schreibtisch des äußerst wütend aussehenden Palominos, der sich keinen Hehl daraus machte, dass er ihren Aufenthalt so unangenehm wie möglich zu gestalten versuchte. 

Sein Büro war kahl und steril. Nirgendwo lag auch nur ein Fetzen Papier herum, der nicht gebraucht wurde. Nirgends hing ein Bild. Genau, wie bei Clyve zu Hause, dachte Jess. Offenbar machte sich die Familie Higgins nichts aus Dekorationen. Selbst der granite Steinboden war so blank geputzt, dass man sich darin spiegeln konnte. Und in der Mitte des Raumes standen sie. Beinahe ausgeliefert in der Weite des Raumes, die ohne Pflanzen oder Bilder an den Wänden viel zu drückend auf ihnen lastete.

"Es ist meine Schuld", Jess Stimme war so kleinlaut, dass sie sich kaum selbst verstehen konnte. "Ich bin umher geirrt und habe nicht mehr heraus gefunden."

"Es ist mir scheißegal, ob Sie sich hierher verirrt haben oder ob Mr. Kilbourne Ihnen eine Gratis-Führung durch den Komplex angeboten hat. Fest steht, dass Sie offensichtlich keine Ahnung haben, in welchen Schwierigkeiten Sie jetzt stecken, Kleines."

Stimmt, die hatte sie tatsächlich nicht. Und sie war sich auch nicht sicher, ob sie es herausfinden wollte. Es sah jedenfalls nicht danach aus, als ob sie relativ bald wieder diesen Ort verlassen dürfte. Zu allem Überfluss piepte nun auch noch ihr Handy, als ihre Mutter anrief, weil sie sich offenbar Sorgen machte, dass ihre Tochter noch immer nicht zu Hause war. 

"Handy zu mir!", knurrte der Professor düster.

"Aber-"

"Ich sagte: Handy zu mir!"

Widerstandslos legte Jess ihr kleines, hellblaues Nokia vor sich auf den Schreibtisch und schob es mit den Nüstern zum Professor herüber, der es entgegen nahm und in seiner Kitteltasche verschwinden ließ. Dann rückte er seine Brille zurecht und schaute dann zu Conor auf, der mit ängstlich angelegten Ohren seinen Blick starr erwiderte.

"Es ist nicht das erste Mal, dass Sie allzu deutlichen Anweisungen keine Folge geleistet haben, Mr. Kilbourne. Aber Sie sind trotzdem noch immer mein zuverlässigster Hengst, deshalb sehen Sie diesen Vorfall als wirklich allerletzte Verwarnung an, bevor ich rechtliche Wege einleiten muss!"

Conor ließ einen tiefen Seufzer aus seinen Lungen entweichen und ließ erleichtert den Kopf hängen. Er hatte wohl damit gerechnet, dass er nun seinen Job los war.

"Ja, Sir", schnaubte er nüchtern. "Danke, Sir."

"Sie können uns nun alleine lassen."

Bitte, was? Jess Augen weiteten sich, als sie dem dunkelbraunen Hengst neben sich einen hilfesuchenden Blick zuwarf. Doch Conor klopfte ihr mit seinem Bein nur sanft auf die Schulter, als ob er ihr viel Glück wünschen wollte, drehte sich um und ging ohne ein weiteres Wort aus dem Raum. 

Nun war sie mit Professor Dr. Higgins alleine im Raum. Es fühlte sich beinahe so an, als sei die Raumtemperatur nochmals um einige Grad gesunken. Jess fröstelte und sie begann unmerklich zu zittern. Panik stieg in ihr auf. Was war, wenn er nun die Polizei rief? Sie hatte nicht nur Hausfriedensbruch begangen, sie war in den Komplex eingebrochen und hatte beobachtet, wie ein streng geheimes Experiment eingeliefert worden war. 

Es war also nicht nur sie, die in der Klemme steckte, sondern auch der Professor selbst. Das wusste er natürlich, aber er saß leider am längeren Hebel und konnte sie und ihre Familie dem Erdboden gleich machen, wenn er nur an den richtigen Fäden in seinem Netzwerk zog. Und das wäre, um es milde auszudrücken, gar nicht gut gewesen.

A3360 - Lehren der VergangenheitWo Geschichten leben. Entdecke jetzt