Kapitel 12 - Der Brief

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"Na, wo ist meine fleißige Streberin?"

Eine vertraute Stimme näherte sich Jess von hinten, als sie gerade dabei war, ihren Schreibtisch nach dem letzten Examens ihres Bachelorstudiengangs aufzuräumen. Freudiger Erwartung blickte sie über die Schulter, um ihren Freund hinter sich anzustrahlen, der mit einem verwegenen Lächeln und einem Briefumschlag im Maul hinter ihr stand, den er mit zittrigen Lippen umschloss.

"Hab da was für dich", schnaubte Clyve mit beinahe entschuldigendem Tonfall. "Weils ja irgendwie so ein bisschen meine Schuld ist, dass du letzte Woche so leiden musstest. Ich hätte denen gleich klar machen sollen, dass ich nichts von ihnen will."

Clyve nickte unauffällig in die Richtung von Shirley und Kimberly, die am Eingang des großen, altmodischen Hörsaals standen und bereits seit Minuten missgünstig zu dem Pärchen herunter starrten. Sie schnippten jedoch nur überheblich die Köpfe in die Höhe , als ihnen klar wurde, dass sie entdeckt worden waren. 

"Aber Clyve! Das ist doch nicht deine Schuld!", schnaubte Jess entrüstet. "Wenn du nicht gewesen wärst, hätte die Geschichte viel schlimmer ausgehen können."

Clyve jedoch ließ nicht locker und streckte ihr den Umschlag entgegen, den er bereits die ganze Zeit bei sich getragen hatte. Jess kam sich in diesem Moment etwas dumm vor, weil er sich für einen Fehler entschuldigte, den er gar nicht begangen hatte. Sie wollte auch nicht wirken, als hätte sie von ihm eine Art der Entschädigung erwartet. Was wäre sie nur für ein Pferd gewesen, wenn sie so etwas forderte?

"Jetzt mach ihn schon auf", drängte sie Clyve. Seine Augen glänzten bereits, ganz aufgeregt vor Vorfreude. "Wir müssen doch den Abschluss unseres Jahrgangs feiern!"

Jess rollte schnaubend mit den Augen und öffnete den Umschlag, in dem sich ein Brief mit Clyves sauberster Schrift und eine Zeichnung von ihr befand, die Jess vor wenigen Tagen erst in seinem Notizbuch entdeckt hatte. 

"Ich dachte, vielleicht möchtest du sie haben", schnaubte Clyve ruhig. "Du kennst sie zwar eigentlich schon, aber vielleicht macht sie dir trotzdem Freude."

Jess blickte erschrocken zu Clyve auf. Woher wusste er, dass sie die Zeichnung schon gesehen hatte?

"Clyve, also das...", begann Jess, doch Clyve ließ sie nicht ausreden.

"Ist schon ok", beruhigte er sie lächelnd. "Ich kenne ja meine Ordnung und ein paar meiner Studienkollegen reißen mir manchmal Seiten aus dem Buch, um mich zu ärgern. Deshalb mache ich immer Eselsohren in die Seiten. Wenn man gerade in Gedanken ist, streift man die automatisch glatt. So weiß ich immer, wann jemand an meinen Sachen war. Den Tipp hat mir Professor Sullivan gegeben."

Er wusste also nur, dass sie das Notizbuch durchgeblättert hatte. Damit blieb die Anmeldung an seinem Computer unbemerkt. Jess machte innerlich einen erleichterten Luftsprung. Sich dafür eine Ausrede auszudenken wäre deutlich schwieriger geworden. Aber hatte er ihr gerade allen Ernstes weismachen wollen, dass die fehlenden Seiten nach der merkwürdigen Hirnzeichnung von seinen flegelhaften Kommilitonen herausgerissen worden waren? Hielt er sie wirklich für so naiv?

"Komm schon, lies den Brief!", drängte er sie, als er ihren skeptischen Blick bemerkte. Wahrscheinlich, um sie davon abzuhalten, den Faden weiter zu spinnen. Clyve mochte ein fauler, verwöhnter Tunichtgut sein, aber er war clever, das musste ihm Jess lassen. Sie versuchte sich nichts anmerken zu lassen, als sie den Brief ganz auffaltete und laut vorlas, was ihr Freund geschrieben hatte.

"Liebste Jess! Jetzt hast du's endlich geschafft und die Paukerei hat sich ausgezahlt. Und weil du dich in den letzten Wochen so selten richtig entspannen konntest, möchte ich dich hiermit zum Anlass deiner abgeschlossenen Bachelorarbeit einladen, mich ins Rossville Diner zu begleiten, um den Abend gebührend ausklingen zu lassen."

Jess machte große Augen. "Rossville Diner? Das Rossville Diner, hier in Southbank?"

Clyve nickte. Das Rossville Diner war eines der bekanntesten Restaurants der Stadt und bekannt dafür, dass es das Lieblingsrestaurant von Stars und Politikern und allerhand VIP's war, die sich dort oft zum gemeinsamen Schlemmen trafen. Mal ganz abgesehen davon, dass das Essen dort verflucht teuer und die Ausstattung äußerst exquisit war. Und Clyve wollte mit ihr wirklich da hin gehen?

"Aber, wie-?"

"Ich habe ein paar Beziehungen spielen lassen", lächelte der goldene Hengst. Er tat dabei so, als ob es ganz gewöhnlich und selbstverständlich wäre, seiner Freundin einfach mal einen Besuch im teuersten Restaurant des Bundesstaates zu spendieren. Aber von gewöhnlich war diese Aktion ja wohl sehr weit entfernt. Jess machte kieksend einen aufgeregten Sprung in die Luft. War das ein Traum? War es Wirklichkeit? Meinte er das wirklich ernst?

Shirley und Kimberly reckten noch immer die Hälse nach ihnen, als sie bemerkten, dass Jess sich über irgendetwas tierisch freute. Mit einem Anflug von Schadenfreude reckte die braune Stute ihren Hals nach vorne und küsste Clyve vor den Augen ihrer eifersüchtigen Mitstreiterinnen. Hauptsächlich vor Freude, aber vielleicht auch ein bisschen, um diesen beiden Schnepfen eins auszuwischen. 

Es war ein einmaliges Gefühl, als Jess im Augenwinkel beobachtete, wie den beiden synchron die Kinnlade herunterfiel und sie auf der Hinterhand kehrtmachten, um aus dem Hörsaal zu stolzieren.

"Da ist wohl jemand neidisch", lachte der Palomino vor ihr voller Amüsement. Er streichelte dabei Jess Wange sanft mit den Nüstern, bevor er sie noch einmal auf die Stirn küsste. "Ich liebe dich", schnaubte er er leise, als er seine Stirn auf ihre legte und dabei die Augen schloss. Ein warmes, aufgeregtes Kribbeln durchflutete sie dabei und nun war Jess klar, dass es endlich soweit war. Das war das Brausekribbeln, welches sie seit Jahren so vermisst hatte. 

"Ich dich auch."

Clyve hob überrascht den Kopf ein Stück. "Habe ich das gerade wirklich gehört?"

"Ich liebe dich, Clyve Damian Higgins!", lachte Jess laut heraus, bevor sie Clyve ein weiteres Mal küsste. Es dauerte einen Moment, bis Clyve verarbeitet hatte, was sie soeben gesagt hatte, doch dann riss er den Kopf hoch, sprang auf die Hinterbeine und stieß einen überglücklichen Schrei durch den Hörsaal, sodass die noch übrigen Studenten ganz erschrocken in ihre Richtungen blickten.

"Ja! JAAA!!!Fuck, yes!!!", schrie er buckelnd und dabei wild im Kreis galoppierend. "Das ist der beste Tag in meinem Leben!"

Schmunzelnd folgte Jess ihrem übermütigen Freund hinaus ins Freie, der, völlig aus dem Häuschen, zu mehreren, zufällig dahergelaufenen Studenten rannte und ihnen ein aufgedrehtes "Sie liebt mich!", um die Ohren zu wiehern. Er verhielt  sich total kindisch. Aber diese Freude, diese ehrliche, übermäßige Freude, war so ansteckend, dass Jess ganz warm ums Herz wurde.

Für einen Moment vergaß Jess einfach mal, dass der Hengst ihr trotz seiner offensichtlichen Liebe zu ihr nicht die ganze Wahrheit erzählte. Denn viel wichtiger war, dass sie endlich wieder verliebt war. Verliebt in Clyve.  



A3360 - Lehren der VergangenheitWo Geschichten leben. Entdecke jetzt