Kapitel 19 - Mari'joe'hana

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"Hey, Jess. Na?", Clyve kam mit einem vorsichtigen Lächeln auf den Lippen zu dem Tisch, an dem Jess und ihre Familie standen. Es war beinahe, als wüsste er, wie schlimm es für sie war, dass er sie übertrumpft hatte. Daher fragte er wohl auch nicht, wie es ihr ging. Jess musste sich eingestehen, dass das sehr clever war. Er hätte ihre ehrliche Antwort wahrscheinlich eh nicht verkraftet.

Stattdessen drehte sie sich zu ihm um und erwiderte einen vorsichtigen Kuss des Palominos, der mit hängenden Ohren hinter ihr stand.

"Schon scheiße, oder?", fragte er mit niedergeschlagener Miene.

"Oh, na das kannst du laut sagen!", wieherte Jess laut heraus. Er war ihrer Meinung! Vielleicht gab es doch noch Hoffnung.

"Mein Vater hatte es nicht einmal nötig zu meinem Abschluss hier zu sein. Oder was meintest du?"

"Öh, ähm. Nein. Vergiss es. Ja, ist wirklich schade." 

Jess verschluckte sich bei diesem dreisten Wendemanöver. Sie war eine hundsmiserable Lügnerin. Wie konnte es sein, dass Clyve all das hatte, was sie sich gewünscht hatte aber trotzdem unglücklich damit war? Klar war es schade dass sein Vater nicht hier war, aber dafür hatte er doch alles erreicht, was er hätte erreichen können.

"Weißt du", begann er zögerlich, als er wohl bemerkte, dass Jess seine Trauer nicht ganz verstand, "was nützt es einem denn, immer und immer wieder Erfolge zu erringen, wenn es doch ohnehin niemanden interessiert? All der Ruhm ist doch nichts wert, wenn man ihn mit niemandem teilen kann."

Er hatte recht. Hätte Jess nicht ihre Familie gehabt, hätte sie sicherlich auf halbem Wege irgendwann aufgegeben. Man wollte seine Eltern ja doch irgendwo stolz machen. 

"Dein Vater ist ein Arschloch", bemerkte sie deshalb trocken, woraufhin sich Clyve vor Lachen schüttelte. 

"Danke! Das wollte ich hören!", wieherte er kichernd, "und jetzt, wo wir das geklärt hätten - möchtest du vielleicht mit mir - also - da drüben ist gleich... Ich meine-"

"Ich gehe gerne mit dir zum Tanz!", lachte Jess, küsste ihn und zog ihn dann von ihrer Familie weg. Ihre Mutter warf ihr einen Blick zu, der wohl aussagen sollte, dass sie noch immer darauf wartete, dass sie Clyve endlich ihrer Familie vorstellte. Aber das hatte ja noch Zeit. 

Als die Band das Lied 'Say you'll be there' von den SpiceMares anlief, stürmten auf einmal alle Studenten jubelnd zur Tanzfläche. Inmitten von ihnen waren Clyve und Jess, die endlich beide wieder ein wenig lachen konnten, während sie sich umeinander drehten und dabei peinlicherweise ständig über ihre eigenen Hufe stolperten. Jess fand das jedoch überhaupt nicht schlimm. Im Gegenteil! Clyves Tollpatschigkeit beim Tanzen war nicht viel besser als ihre und sie war froh, dass sie nicht die einzige im Raum war, die überhaupt nicht tanzen konnte.

Überglücklich fiel sie ihm deshalb am Ende des Liedes um den Hals und küsste ihn ein weiteres Mal, das ganze nächste Lied hindurch. 

Die Tanzfläche wurde währenddessen immer voller und schließlich brachten auch Debbie und Joe einen ordentlichen ChaChaCha auf die Tanzfläche. Hatte sie tatsächlich ihren Freund zu ihrer Abschlussfeier eingeladen? Er hatte hier doch überhaupt nichts verloren! Aber wenn sie es unbedingt so wollte, sollte sie doch. 

Bis zur Pause der Band tanzten Clyve und Jess noch durch. Allerdings war ihr Drang, endlich mal wieder hinaus an die frische Luft zu gehen inzwischen so groß geworden, dass sie sich kurz bei Clyve entschuldigte, um sich im Freien etwas die Hufe vertreten zu können.

Den angenehm kühlen Wind in ihrem Fell genießend, schritt sie so einige Male auf und ab, bis sie am Eingang der Halle Professor Sullivan entdeckte, der bei einer Gruppe junger Studenten stand und zusammen mit ihnen rauchte. Als er jedoch bemerkte, dass sie ihn gesehen hatte, schnippte er seine Zigarette möglichst unauffällig von sich und grinste sie unschuldig an. Der Geruch, den der Wind allerdings zu ihr hinüber trug, war unverkennbar.

A3360 - Lehren der VergangenheitWo Geschichten leben. Entdecke jetzt