Kapitel 38 - Trennungswehen

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Jess Handy vibrierte die ganze Nacht und den ganzen nächsten Tag hindurch. Keinen einzigen Anruf nahm sie entgegen, war ihr die Nummer doch allzu bekannt. Und sie hatte definitiv keine Lust, mit diesem Pferd zu sprechen, das da unaufhörlich ihr Handy mit Anrufen traktierte. Irgendwann war Jess sogar so weit, dass sie das nervtötende Gerät einfach abschaltete, um endlichihre Ruhe zu haben und mal wieder einige Stunden lang schlafen zu können.

Am Ende des zweiten Tages zählte sie etwa fünfhundert Anrufe in Abwesenheit - Tendenz steigend. Nach Tag drei waren es bereits eintausend und dreihundert. Nun hätte Jess eine exponentielle Gleichung aufstellen können, um das Phänomen fortlaufend zu prognostizieren, hatte jedoch überhaupt keine Motivation, sich auch nur in irgendeiner Weise weiter mit dem Thema Clyve weiter zu beschäftigen.Sie würde das Problem einfach aussitzen, um sich darüber Gedanken zu machen, was sie ihm sagen würde, wenn sie sich zu einer Aussprache trafen. Diese wollte sie jedoch erst in frühestens zwei Wochen abhalten, damit sie ihm nicht sofort an die Gurgel ging für das, was er angestellt hatte. Er würde sicher irgendwann von alleine aufgeben und es war ja auch nicht so, als hätte Jess ihm keine SMS hinterlassen, die ihn auf ihren Plan hingewiesen hatte. Er würde es ganz bestimmt verstehen.

Doch falsch gedacht!

Nach Tag fünf war sie bei dreitausend vierhundert Anrufen angelangt. Seufzend schaltete Jess das Handy am Morgen Nummer sechs wieder ab, bevor sie sich zu ihrer Familie in die Küche an den Frühstückstisch schleppte.

"Morgen", nuschelte sie, in ihrer schlechten Laune die mitleidigen Blicke ihrer Verwandten ignorierend.

"Morgen", kam es einstimmig von der unmotivierten Versammlung zurück, die sich in der Küche versammelt hatte. Mürrisch knallte sie eine Tasse unter die Kaffeemaschine. Das leise Surren des Gerätes entspannte sie zum Glück ein wenig. Vielleicht war es aber auch die Aussicht auf das herrliche Heißgetränk, nach welchem sich ihr müder Körper nach der langen, schlaflosen Nacht buchstäblich zu sehnen schien. 

Ein Blick zum Esstisch ließ Jess schließlich schmunzeln. Debbie war gerade dabei, sich schmatzend und auch ein wenig unelegant einen Obstsalat mit Sojajoghurt in sich hinein zu schaufeln, während Dita seelenruhig weiter in einem Katalog blätterte, nachdem ihre älteste Tochter keinen Ton mehr von sich gegeben hatte. Don McLaren war einmal wieder hinter seiner Morgenzeitung nicht zu sehen, man hörte jedoch immer mal wieder ein andächtiges 'Aha' hinter den Papierfetzen hervor munkeln, welches darauf hinwies, dass irgendein Artikel seine besondere Aufmerksamkeit erlangt hatte. Alles war, wie immer.

Jess musste zugeben, dass sie diese ungeschönte Morgenroutine ihrer etwas verdrehten Familie sehr vermisst hatte. Erst jetzt fiel ihr auf, wie viele Morgen sie bei Clyve verbracht hatte. Ein Seufzen entfuhr ihr, das sie in einem großen Schluck schwarzem Kaffee ertränkte. Der bittere Geschmack ließ sie erzittern und einmal mehr merkte sie, warum ein Stück Zucker und ein Schluck Milch in ihrem Kaffee eine absolute Daseinsberechtigung verdient hatten.

"Jess, weißt du was das ist?", schmatzte Debbie grinsend, die nun mit einem Briefumschlag in der Luft herumwedelte, nachdem sie endlich den Obstsalat geleert hatte. Jess zuckte nur anteilslos mit den Schultern. 

"Du sagst es mir sicher gleich, oder?", schnaubte sie, etwas mürrisch. Debbie grunzte ungehalten, legte den Briefumschlag zurück auf den Tisch und schmollte trotzig.

"Ich kann's auch lassen", motzte sie stattdessen. Jess stieß ein tiefes Murren aus, näherte sich dem Tisch und damit auch dem Platz, an dem ihre Schwester stand. Über deren Schulter beobachtete sie, wie Debbie ein Schreiben aus dem Briefumschlag zog. Das Papier war edel. Selbst das Knistern, als Debbie es aus dem Umschlag holte, klang exquisit.

"Sehr geehrte Deborah McLaren! Wir freuen uns sehr, Ihnen mitteilen zu können, dass Sie eine der sechzig Bewerber und Bewerberinnen sind, die sich für den Studiengang Masken- und Kostümbildnerei an der Princeton-University, Southbank qualifiziert haben. Alle Unterlagen senden wir Ihnen in einem separaten Schreiben zu. Wir wünschen Ihnen alles Gute auf Ihrem weiteren Bildungsweg. Hochachtungsvoll, Studienleiterin des Faches Masken- und Kostümbildnerei, Madeira Thompson."

Für einen Augenblick schwiegen die Schwestern. Dann quietschte Jess plötzlich überglücklich auf, hüpfte mit ihrer Schwester gemeinsam auf und ab und wuschelte ihr stolz durch den lockigen Schopf. 

"Oh mein Gott, wie geil ist das denn?!", johlte Jess auf, drückte ihre Schwester dabei noch näher an sich heran.

A3360 - Lehren der VergangenheitWo Geschichten leben. Entdecke jetzt