Kapitel 23 - Paranoia

884 64 17
                                    

Als Jess an diesem Tag das erste Mal auf die Uhr blickte, erschrak sie, wie spät es bereits war. Sie hatte überhaupt nicht realisiert, wie lange sie in diesem vermaledeiten Gebäude gesteckt hatte. Man verlor bei dem künstlichen Licht unter der Erde einfach jedes Zeitgefühl. 

Die Sonne hatte ihren höchsten Punkt jedenfalls schon überschritten, als sie endlich die Tür ihres Elternhauses erreichte. Ihr Handy hatte sie noch nicht von dem Professor zurück erhalten. Er hatte gesagt, dass er nur überprüfen wollte, ob sie bereits Informationen an die Außenwelt versendet hatte. Das gehörte zum Standardverfahren - Angeblich. Jess wusste aber ganz genau, dass er ihr nicht so richtig traute. 

Kaum hatte sie den Schlüssel im Schloss umgedreht, stürzte ihr ihre vollkommen aufgebrachte Mutter aus der Küche entgegen.

"Jessy! Wo bist du denn gewesen? Wir haben uns solche Sorgen um dich gemacht!"

Jess ließ eine überschwängliche Umarmung von ihrer Mutter und eine Tonne von Küssen und glücklichen Seufzern über sich ergehen, bevor sie ächzend in die Küche trottete und zum ersten Mal an diesem Tag endlich ein Glas Wasser trank. 

"Ich habe Clyves Vater getroffen", schnaubte sie ehrlicherweise. "Dort hatte ich leider keinen Empfang, sonst hätte ich euch Bescheid gegeben."

"Der werte Herr hätte sicherlich nichts dagegen gehabt, wenn du sein Festnetztelefon benutzt hättest", schnaubte Dita streng. Jess suchte noch verzweifelt nach einer Ausrede, aber ihrer Mutter weiszumachen, dass Lester Higgins kein Telefon besaß wäre wohl wirklich nur eine sehr verzweifelte und auch dumme Idee gewesen.

"Ja, Mama", seufzte sie stattdessen. "Ich hab nicht dran gedacht, sorry."

"Wir waren krank vor Sorge", brummte ihr Vater aus einer Ecke der Küche, in der er es sich mit Kaffee und Zeitung bequem gemacht hatte. "Debbie hat uns zwar gesagt, dass du mit deinem Freund unterwegs bist, aber auf dem Ball liefen so viele verrückte Studenten herum. Wir hatten schon Angst, du wärst womöglich vergewaltigt worden."

"Also Don, jetzt hör aber auf!", wieherte Dita ihren mürrischen Ehemann an, der nochmal einen großen Schluck von seinem Kaffee nahm und dann grummelnd aus der Küche in Richtung Badezimmer verschwand.

"Haben wir natürlich nicht", schnaubte Jess Mutter ruhig. "Aber da du nur Debbie geschrieben hast, haben wir befürchtet, dass du dich wieder mal in irgendwelche Schwierigkeiten bringst und nicht willst, dass wir davon erfahren."

Wenn sie nur wüsste, dachte Jess bei sich. Ihre Mutter kannte sie wohl nur allzu gut. Nur praktisch, dass die ganze Angelegenheit so glimpflich für sie ausgegangen war. 

"Apropos, Debbie", Jess blickte sich verwundert in Flur und Küche um. "Wo ist das kleine Glumanda eigentlich?"

Jess spielte dabei auf die feuerroten Haare ihrer Schwester an, doch ihre Mutter schien den kleinen Running-Gag zwischen ihr und ihrer Schwester nicht zu verstehen. Jedenfalls runzelte sie nur nachdenklich die Stirn und antwortete dann mit deutlicher Verwirrung: "Dein kleines Glu- wie auch immer, ist im Krankenhaus bei ihrem Freund. Er hatte wohl mit Drogen zu tun und hat eine schlimme Alkoholvergiftung davongetragen. Er lag sogar einige Stunden im Koma."

"Nein!", schnaubte Jess mit gespieltem Entsetzen.

"Doch", antwortete ihre Mutter traurig. 

"Oh!"

Trotz ihrer Schadenfreude, nagten an Jess furchtbare Schuldgefühle. Obwohl sie natürlich Joe mit dem Rufen eines Krankenwagens womöglich das Leben gerettet hatte, so hatte sie ihm wohl nun auch eine Eintragung in die Polizeiakte beschert. Debbie dürfte nie davon erfahren, dass sie Schuld daran, war, dass ihr Freund nun ein eingetragener Krimineller mit einem Hintergrund im Drogenmissbrauch war. Sie hätte sie deshalb sicherlich einen ganzen Kopf kürzer geschlagen.

A3360 - Lehren der VergangenheitWo Geschichten leben. Entdecke jetzt