Kapitel 36 - Der Boden der Tatsachen

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Glasige, leere Augen, die in die von Jess blickten. Ein zuckendes Ohr, jedoch keine Mimik. Ein Nüsternblähen, ein Hufescharren ohne Bedeutung. Eine Hülle für ein Wesen ohne Antrieb, ohne Gefühle. Das Pferd hob den Kopf, als es in dem leeren, hellen Raum vor Jess stand.

Seine Hufe waren in Ketten gelegt, die mit festen Scharnieren im Boden verankert waren. So konnte er nicht einfach aufspringen und sie angreifen, falls es ihm danach war. Das Experiment kniff die Augen gegen das grelle Licht zusammen, als seine Pupillen sie fixierten und sein kalter Blick sich in ihre Seele bohrte. Er wirkte beinahe wie ein Haifisch auf der Suche nach seiner nächsten Beute, die er in die Tiefe reißen und mit seinen scharfen Zähnen zerfetzen konnte.

Jess fröstelte, als sie an seine letzten Worte dachte. "Ich habe Angst", hatte er gesagt. Nun war sie es, die Angst hatte. Angst vor ihm. Das Gefühl schnürte ihr die Kehle zu, während der weiße Hengst sich vor ihr aufbaute und seinen Hals weit hinauf reckte um auf sie herab blicken zu können.

"Was hast du getan?", schnaubte er ohne jegliche Emotion in seiner Stimme. Die Worte hallten in Jess Kopf wieder und schwollen zu einem Chorus an.

"Warum hast du es nicht verhindert?"

"Weil ich auch Angst hatte!", wieherte sie. Ihre Stimme klang gedämpft, als würde sie durch ein Kissen sprechen. "Mindestens genau so viel wie du!"

"Sieh an, was aus mir geworden ist."

Jess schnappte nach Luft. Sie sah es ja. Sie wusste genau, was mit ihm geschehen war. Und sie hatte es billigend in Kauf genommen, um ihre eigene Haut zu retten. Künstliche Alexithymie. Ein Experiment, welches vorsah, diesem Pferd jegliche Emotionen zu nehmen. Ihn abzuschirmen für alles, was ihn traurig machte, allerdings auch für alles, was ihm Glück bringen konnte. Sie war es so leid, sich schuldig zu fühlen, denn im Grunde genommen hatte sie alles dafür gegeben, Clyve ins Gewissen zu reden. Aber nun fühlte es sich an, als habe sie all die Zeit damit verbracht, mit einer Betonwand zu palavern. Einer kalten Mauer ohne Gewissen und ohne ein Herz, an der alles, was sie gesagt hatte, einfach wie Wasser abgeperlt war.

Egal, was diesem Hengst vor ihr nachgesagt worden war - er war niemals ein kaltblütiger Killer gewesen. Was die Wissenschaflter sich auch mit all ihren Elektroschocktherapien und medikamentösen Behandlungen versprochen hatten, einen Charakter konnte man nicht ändern. Und dieser Hengst war ohne Zweifel ein Kämpfer mit einem großen Herzen. Vielleicht ein ehemaliger Marine, vielleicht ein Geheimagent der Regierung, der korrupt geworden war. Zumindest schien er etwas dieser Art gewesen zu sein, bevor sie ihm das genommen hatten, was ihn eigentlich ausmachte.

Jess fröstelte. Kraftlos sank sie vor dem Hengst auf die Knie und begann bitterlich zu weinen.

"Schau, wie perfekt er nun ist", vernahm sie die Stimme des Professors hinter sich. "Er ist so, wie jedes Pferd sein müsste. Frei von Sorgen."

Sie wandte sich um, doch konnte niemanden erkennen. Nur die Stimmen vermischten sich nun mit dem Chorus derer des weißen Hengstes vor ihr. Sie erfüllten ihren Kopf und wollten einfach nicht verschwinden.

"Schau, wie perfekt er ist. Was hast du getan? Warum hast du es nicht verhindert? Sieh an, was aus mir geworden ist!"

"Es tut mir so leid!", wieherte Jess in das unendlich scheinende Weiß des Raumes hinein. "Es tut mir so unglaublich, unglaublich leid! Ich werde es wiedergutmachen! Ich verspreche es! Irgendwann!"

In diesem Moment wurde Jess von einer dunklein Macht überwältigt, die sie zu Boden drückte und ihr den Atem nahm. Ihre Lunge brannte wie Feuer, als die dunkle Gestalt sich über sie legte und jegliche Luft aus ihr heraus presste. Hustend und nach Luft ringend wollte sie um Hilfe rufen. Doch ihre Stimme, die noch immer wie durch ein Kissen gedämpft war, versagte nun vollkommen. Das Wesen, was auch immer es war, begann sie durch den Boden zu reißen. Ein gähnendes, schwarzes Loch tat sich unter ihnen auf, als sie zu fallen begann.

A3360 - Lehren der VergangenheitWo Geschichten leben. Entdecke jetzt