Kapitel 40 - A3360

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Die Nüstern des weißen Hengstes zuckten bei dem Gedanken daran, was die Wissenschaftler als nächstes mit ihm anstellen würden. Sie mochten ihm das Gefühl der Angst genommen haben, nicht aber das Empfinden der unsagbaren Schmerzen, die sie ihm zufügten. 

Sein Herz schlug schneller, als das in seinem Kopf verbaute Computersystem ein sich näherndes Pferd meldete. 

Higgins.

Ein Pferd, auf das die Beschreibung von Hass am meisten zutraf, obwohl der Hengst das Gefühl selbst nur in der Theorie nachempfinden konnte. Ein Pferd, das jedes andere Pferd um ihn herum fürchtete.

Dr. Higgins.

Ein zweites Mal huschte der Name durch seinen Kopf. Ein Pferd, welches nichts mehr zu verlieren hatte. Kalt und leer und ohne Gewissen, welches den weißen Hengst zu den unmoralischsten Taten trieb. 

Im Grunde machte es dem Hengst nichts aus, andere, gescheiterte Experimente zu töten. Weder gefiel ihm die Vorstellung, noch widerte sie ihn an. Nein, es war der Gedanke, dass sein Handeln falsch war, was ihn erschaudern ließ. Morden war falsch. Auch, wenn sie ihm täglich versuchten, etwas anderes in den Kopf einzupflanzen. 

Seit Jahren stand er nun in dieser Sicherheitszelle. Und Jahr für Jahr hatte er sich die Gesichtszüge des jungen Wissenschaftlers eingeprägt. Seit diese Stute nicht mehr hier arbeitete, hatten seine Züge sich zusehends versteinert und er war kalt geworden. Eiskalt. Skrupellos. 

Hätte der Hengst die Möglichkeit gehabt, hätte er ihn selbst auf die Verbrecherdatenbank in seinem Kopf gespielt. Er hätte ihn getötet. Einfach so. Aber er war der Grund, warum er überhaupt noch lebte. 

Dankbarkeit kannte der Hengst jedoch nicht. Warum auch? Es war für ihn selbstverständlich, dass man ihn am Leben erhielt - Jahr um Jahr.

Nur die Langeweile nagte an ihm und begann sich in seinen Hirnwindungen auszubreiten. Nachdem die Wissenschaftler sich nicht mehr mit ihm beschäftigten, fühlte es sich an, als würde der Verschleiß von Synapsen sich in seinem Hirn ausbreiten und an seinen Nerven zu fressen.

Er musste etwas tun. 

Diese Stute, die ihn behandelt hatte war anders gewesen. Sie hatte ihn nie mit seiner Zahl angesprochen. Für sie war er ein lebendes Wesen und das, obwohl er nicht verstand, warum sie so war. Die Pferde nannten es immer Mitleid. Das, was sie für ihn nicht empfanden. Sie sagten immer, dass er alles, was ihm zugestoßen war, verdient hatte. 

Wie konnte man Schmerzen verdienen?

Hätte er sich nur an das erinnert, was vor seinem Leben in diesem Labor geschehen war. Es flackerten zwar immer wieder einzelne Erinnerungen in ihm auf, aber sie waren so vage, dass er sie nicht greifen konnte. So nah und doch so fern. 

Er würde diese Stute suchen. Und er würde sie finden. Was dann war, das würde er herausfinden, wenn es soweit war. Dennoch sagten seine Berechnungen, dass bei ihr ein für ihn sehr relevantes Geheimnis lag, das es zu lüften galt und dass sie die einzige war, die ihm am wahrscheinlichsten helfen würde, anstatt ihn sofort wieder zurück in das Labor zu bringen.

Er würde fliehen. Noch in derselben Nacht.

Das Signal des näher kommenden Pferdes verstärkte sich, bevor es wieder abebbte. Der junge Doktor war einmal wieder, wie schon so oft in den letzten Jahren, achtlos an seiner Zelle vorübergegangen und hatte ein zweites, fremdes Pferd mit sich geführt. Wahrscheinlich einen neuen Mitarbeiter, den er einzuweisen hatte.

Mit einem prüfenden Blick sah der Hengst zu den beiden Wachen, die vor seiner Zelle standen und atmete tief durch. 

Wieder Herzklopfen. 

Mit einem weiteren, tiefen Atemzug schloss A3360 die Augen und hackte sich in das Sicherheitssystem des Labors ein, auf welches er sich Zugriff erschlichen hatte. Er war nur noch wenige Sekunden vom Gelingen seines Planes entfernt. Und er würde ihn zu Ende bringen. So wie alles, was er jemals begonnen hatte.

Begleitet vom Klang der roboterartigen, weiblichen Stimme in seinem Kopf, wartete er in aller Seelenruhe, bis die Einstellungen, die er vornahm, wirksam wurden.

'Systemstop eingeleitet - Verbindung zur Stromversorgung beendet. Stromversorgung U26 - Error. Stromversorgung U26 - Error. Stromversorgung U25 - Error... Notstromversorgung eingeschaltet. Automatischer Alarm in 3...2...1...'

 Und auf einmal  wurde es pechschwarz im Labor, als der Strom ausfiel und seine Welt hinter undurchdringbarer Dunkelheit und dem lauten Schallen der Notsirene verschwand....


Ende

A3360 - Lehren der VergangenheitWo Geschichten leben. Entdecke jetzt