Kapitel 34 -Ruhe vor dem Sturm

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"Wie, du glaubst, du hast mit Debbie schlussgemacht?"

Jess Tonfall war deutlich ungehalten, obwohl sie sich sicher war, dass Joe auch ohne ihre Standpauke schon genug Verwirrung und Schmerz veräußerte. Nein, dieser Hengst hatte nichts Böses im Sinn gehabt. Er schien nicht nur verwirrt, sondern außerdem auch noch völlig aufgewühlt zu sein. Seine Nüstern bebten und er atmete schwer, als hätte er gerade einen Marathon bestritten. Trotz alldem kämpfte er wohl mit den Tränen, denn seine Atemzüge klangen gebrochen und wackelig. Der bloße Anblick tat Jess so leid, dass sie schlucken musste.

"Jetzt beruhige dich und sag' mir, was passiert ist!"

"Debbie und ich haben uns gestritten, weil ich verhindern wollte, dass sie wegen mir ihren Traum von der Maskenbildnerin aufgibt. Sie wollte ihre Aufnahmeprüfung sausen lassen."

"Aufnahmeprüfung?", diesen Begriff hörte Jess nun überhaupt zum ersten Mal im Zusammenhang mit Debbie. Seit wann war sie denn zu dieser Aufnahmeprüfung geladen gewesen? Und vor allem - warum hatte Debbie nie etwas davon erzählt? Hatte das alles etwa mit ihrer fanatischen Liebe zu Joe zu tun, dem sie seit Wochen hinterher rannte? Hatte sie Angst gehabt, dass Jess sie zwingen würde, die Prüfung abzulegen?

"Debbie hat sich mit allen Hufen dagegen gewehrt, dort hinzugehen, weil sie unbedingt an meiner Uni studieren wollte. Deshalb habe ich sie ins Auto gesetzt und sie bei der Adresse abgesetzt, die auf dem Schreiben angegeben war."

"Na und? Das heißt doch nicht, dass du mit ihr schlussgemacht hast, oder?"

"Na ja, wenn ich ihr dann aber noch gesagt habe, dass sie sich nie wieder Gedanken um mich oder meine Uni machen muss, wenn sie ihren faulen Hintern nicht zu der Aufnahmeprüfung bewegt und sie einfach stehen gelassen habe?"

"Oh!", zischte Jess mit zusammengebissenen Zähnen. Bei Debbie konnten solche Ausfälle definitiv dazu führen, dass sie komplett dichtmachte und jene Person für alle Ewigkeit abschrieb.

"Ja, oh!", schnaubte Joe verzweifelt. "Seither hat sie sich nicht einmal bei mir gemeldet. Und sie ignoriert meine SMS! Die Tür macht sie auch nicht auf. Ich weiß nicht, was ich noch machen soll! Ich liebe sie doch, aber manchmal könnte ich ihr echt den Hals umdrehen, wenn sie so naiv und stur ist!"

Jess blies genervt durch ihre Nüstern und rollte mit den Augen, als sie einen Schritt zurückmachte, angespannt mit dem Schweif schlagend. So war die Liebe. Ein ewiges hin und her zwischen fantastischen Momenten und Augenblicken, in denen man seine bessere Hälfte am liebsten lebendig im Garten vergraben würde. Jess kannte sich damit sehr gut aus. Ihre Beziehung zu Clyve war schließlich kein bisschen besser.

"Und was willst du dann von mir? Dass ich meine Schwester für dich frage, ob ihr noch zusammen seid?"

Joe scharrte vor Peinlichkeit mit dem Huf in der weichen Erde des Vorgartens herum. Die braune Stute konnte nicht fassen, wie feige dieser Hengst war. Wenn er Debbie wirklich liebte, würde er lernen müssen, mit ihr zu reden, denn so machte man das in einer funktionierenden Beziehung.

"Wenn du es so sagst, klingt es wirklich doof", murmelte Joe mit niedergeschlagen hängenden Ohren. "Aber ich hab Angst, dass sie mich von eurem Grund und Boden verjagt. Ich wollte doch nur, dass sie aufhört, ihr Leben wegen mir einfach an den Nagel zu hängen, verstehst du das?"

Jess nickte verständnisvoll. Immerhin dachte er an seine Zukunft und an die seiner Freundin. Schließlich gab es etliche Hengste, denen es völlig egal gewesen wäre, wo ihre Ex-Freundin nun abblieb. Er musste Debbie wirklich aufrichtig lieben, wenn ihm ihr zukünftiges Wohlergehen sogar wichtiger war, als ihre Beziehung zueinander.

Und sie fühlte ja mit ihm. Auch sie kannte das Gefühl, den Partner am Abgrund stehen zu sehen und nicht zu wissen, wie man ihn vor einem schlimmen Schicksal bewahren konnte. Clyve war jedenfalls mit den Machenschaften seines Vaters auf gutem Wege, vor Gericht und schließlich im Gefängnis zu landen. Kein Pferd konnte ihr erklären, dass es wirklich legal war, was dort in den Labors ablief. Aber nein, sie hatte sich ja der Schweigepflicht verschworen.

A3360 - Lehren der VergangenheitWo Geschichten leben. Entdecke jetzt