Kapitel 4 - Gedankenlesen

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 Jess war ein wenig mulmig zumute, als sie sich an diesem Abend vor der Bibliothek wiederfand. Ob sie wirklich so gut aussah, wie Debbie es ihr gesagt hatte? Hatte Debbie das vielleicht nur gesagt, weil sie ihre Schwester war und sie nicht verletzen wollte?

Jess Herz klopfte ihr bis zum Hals, als sie aufgeregt ihre Umhängetasche durchwühlte und kontrollierte, ob sie auch wirklich alle nötigen Bücher dabei hatte, um das Thema für Professor Donovans Hausarbeit fertigstellen zu können. Beruhigungsmechanismus.

„Verdammt, reiß dich zusammen, Jessica!", zischte sie sich selbst an. Warum war sie nur so aufgeregt? Es war doch nicht das erste Mal, dass sie sich mit Clyve traf!

„Genau, reiß dich gefälligst zusammen! Schäm dich!"

Als plötzlich Clyves Stimme direkt hinter ihr ertönte, erlitt Jess einen heftigen „Beinahe-Herzinfarkt", der sie laut aufschreien ließ und ihr für kurze Zeit alle Lichter ausknipste.

Jess erwachte erst dank einer Schelle von Clyve, der bereits verzweifelte erste-Hilfe-Maßnahmen ergriffen hatte. Vielleicht hätte sie ihm sagen sollen, dass sie oft einfach umkippte, wenn sie aufgeregt war und ein heftiger Schreck in diesem Moment immer mit voller Wucht ihren inneren Not-Aus-Schalter umlegte.

„Fuck! Entschuldige!", stammelte Clyve, dem es offenbar äußerst peinlich war, dass er seine Verabredung schon in den ersten Minuten ihres Treffens eine Ohrfeige verpasst hatte.

„Schon gut. Ich hätte dich warnen sollen", ächzte die braune Stute, sich mühsam zurück auf die Beine hievend. Clyve blickte mit zur Seite hängenden Ohren auf seine Hufe herab und schlug unruhig mit dem Schweif.

„Ich, äh..."

„Clyve vergiss es. Ist schon gut, ehrlich!", Jess strauchelte kurz, woraufhin der Palomino einen Satz nach vorne machte und sie wieder auffing, bevor sie zurück auf den Boden stürzte.

„Sicher, dass alles ok ist?", fragte er vorsichtig. Jess atmete tief durch, während sie versuchte, ihre sich puddingartig anfühlenden Beine durchzustrecken, doch sie schaffte es gerade noch zwei Schritte in Richtung der alten Steintreppe am Aufgang der Bibliothek zu machen, bevor sie wieder einknickte und sich darauf nieder ließ.

„Vielleicht brauche ich doch noch ein paar Minuten", lächelte sie entschuldigend. Clyve setzte sich zu ihr und legte ihr beruhigend den Kopf über den Hals. Jess spürte, wie ihre Aufregung langsam zurückkehrte, doch das war ihr in diesem schönen Moment herzlich egal.

„Hast du vielleicht Hunger?", fragte der Palomino nach einer Weile. Jess blickte ihn aus großen Augen an und nickte dann. Sie hatte wirklich Hunger. Vor Aufregung hatte sie glatt vergessen, sich etwas zu Essen einzupacken.

„Dann bestelle ich uns eine Pizza hierher. Es ist hier gerade so schön."

Jess lächelte. Klar, es war zwar kein Wald bei Sonnenuntergang oder ein Hochhaus mit fantastischer Aussicht, aber es war still und das Gezwitscher der Vögel, die über den Campus flatterten, war beruhigend und entspannend zugleich. Also stimmte Jess zu und drückte sich eng an Clyve, als dieser mit seinem Handy den Pizzaservice anrief.

Die Verwunderung des Pizzaboten am anderen Ende der Leitung musste groß gewesen sein, denn Clyve musste ganze dreimal wiederholen, dass die Lieferung nicht an eine Privatadresse, sondern an einen öffentlichen Platz an der Universität geliefert werden sollte.

„Immer dieses Personal, tse", Clyve rollte gespielt genervt mit den Augen.

Jess machte eine abwertende Bewegung mit ihrem Huf und lachte. „Oh ja! Schämen sollten die sich, dass sie keine Gedanken lesen können!"

„Hach, Gedankenlesen wäre manchmal gar nicht so schlecht", murmelte Clyve, als er auf Jess hinunter blickte und ihr sanft mit den Nüstern über die Mähne strich. „Denk doch nur mal daran, was du alles wissen könntest, ohne, dass dein Gegenüber es je herausfindet. Wie genial du bei Examen schummeln könntest und niemand würde es je herausfinden."

„Denk doch mal daran, was du alles wissen könnest, was du nie im Leben hättest wissen wollen", schnaubte Jess daraufhin frech. „Zum Beispiel, ob Professor Donovan wirklich was mit seiner dreißig Jahre jüngeren Haushälterin am Laufen hat. Und ob sie sich wirklich in abgelegenen Räumen der Uni so heftig miteinander vergnügen, wie in der Jahrgangszeitung von letztem Jahr berichtet wurde..."

„Brrr!", machte Clyve und schüttelte sich. „Was für eine Vorstellung. Danke für das Bild!"

„War mir eine Ehre!"

Clyve lehnte sich lässig auf der Treppe zurück und rückte noch ein wenig näher an Jess heran.

„Puh! Ganz schön warm heute, oder bilde ich mir das nur ein?"

Jess musste beim bloßen Ansatz dieses uralten Anmachspruches breit grinsen. Clyve war definitiv noch von der alten Schule. Ob das jetzt gut oder schlecht war, konnte sie noch nicht beurteilen. Aber er wusste es und nahm es mit Humor.

„Hm. Vielleicht bin ich das ja auch nur!", schnaubte er beiläufig und lehnte sich wieder zurück. Plötzlich spürte Jess ein Piken in der Seite, dann ein weiteres. Sie zuckte zusammen und kicherte, als der Palomino sie auskitzelte und dann über den Platz vor der Bibliothek jagte. Vor Lachen nach Luft ringend ließ Jess sich dann auf den Grünen Streifen der Liegewiese vor der Bibliothek fallen. Auge in Auge mit Clyve lag sie auf dem satten Grün. Sie atmeten schwer, doch sie strahlten über beide Ohren.

„Och nein. Jetzt habe ich deine wundervolle Frisur zerstört", flüsterte der goldene Hengst leise, reckte seinen Hals und steckte Jess die Strähne, die sich aus ihrem Schopf gelöst hatte hinters Ohr zurück. Wie von selbst legte sie ihren Kopf an Clyves warmen Hals und atmete tief ein, während er einfach nur da lag und seinen Kopf über ihrem Hals platzierte.

So verharrten sie einige Minuten, bis die Uhr der Uni-Bibliothek verkündete, dass das Gelände bald geschlossen wurde. Jess wollte sich langsam aus ihrer sanften Umarmung lösen, doch Clyve streckte einen Huf nach ihr aus und zog sie sanft zurück.

„Bitte bleib für immer so. Es war gerade so schön." Mit großen, tiefblauen Augen, guckte Clyve Jess an und legte dabei seinen goldigsten Hundeblick auf, den er zustande brachte. Lächelnd drückte Jess ihren Kopf noch einmal an seinen Hals, bevor sie aufzustehen versuchte, doch Clyve hielt sie noch immer fest und eigentlich wollte sie auch gar nicht fort von hier.

In der Sekunde, in der sie ihre Stirn an die von Clyve legte, hob er ihren Kopf sachte an und küsste sie.
Ein Feuerwerk aus Gefühlen überkam sie mit einem Mal, dass Jess ganz schwindelig wurde. Sie spürte, wie ihre Aufregung langsam verblasste und sich in ein Kitzeln, ein Ziehen, ein Pochen verwandelte. Und für diesen Moment war alles perfekt.

Bis der Pizzabote kam und die beiden Turteltauben jäh unterbrach.

Clyve zahlte, manierlich wie ein Gentleman, für Jess mit. Sie nahmen die Schachteln mit der Pizza und spazierten damit Seite an Seite hinunter zum Flussufer, wo Jess ihrer Schwester eine SMS schrieb, dass sie heute Nacht wohl nicht mehr nach Hause kommen würde.

Jess drückte sich am Ufer der Flusspromenade an ihren hübschen, goldenen Hengst mit den wundervollen blauen Augen und genoss das friedliche Rauschen der Wellen und Clyves sanftem Atem, der ihr Ohr kitzelte, während sie gemeinsam ihre bereits viel zu kalte Pizza aßen. Doch das machte nichts.

Alles Glück der Welt hatte sich für sie hier und heute vereint. Und nicht einmal Donovans versäumte Hausarbeit konnte diesen Moment jetzt noch zerstören.

A3360 - Lehren der VergangenheitWo Geschichten leben. Entdecke jetzt