°28

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Taehyung

Ich wende mich wieder meiner beinahe fertigen Wand zu. Ich brauche nur noch ein paar kleine Flächen zu decken und ich bin fertig. Kaum habe ich das erledigt, wandert mein Blick zu Jungkook. Im Gegensatz zu mir, ist er noch nicht so weit. Es fehlt noch gut ein Fünftel, bis die gesamte Wand blau ist. Zwar möchte ich ihm helfen, aber in diesem Moment, sehe ich ihm lieber bei der Arbeit zu, in die er so vertieft ist, dass er nicht einmal mehr mitkriegt, was um ihn herum geschieht.

Jungkooks Haare fallen ihm in die Stirn und Augen, sodass er sie fast schon genervt mit seinem Unterarm wegstreicht. Er sieht erschöpft aus, doch sagt nichts, macht keine Pause. Er bückt sich, taucht den Farbroller in den Kessel voller blauer Farbe, streicht ihn etwas ab und setzt ihn wieder an der Wand an, bevor er diese weiter in der schönen Farbe versieht. Seine Fingerspitzen und Handrücken sind bekleckert und auch seine Wange zeigt einen blauen Strich.

Langsam lege ich meinen eigenen Farbroller auf eine der Zeitungen und mustere Jungkook weiter. Der Jüngere beisst sich auf die Lippe, während er den Roller wieder in den Farbtopf taucht. Ich wusste nicht, dass es so faszinierend sein kann, jemanden anzusehen, sodass man ihn gute Stunden anstarren könnte.
Allerdings scheint er nun meinen Blick auf sich zu spüren, denn er richtet sich wieder auf und sieht mich fragend an.

"A-a-alles in Or-ordnu-ung?" Sein Blick ist besorgt, als fürchtet er, er könnte beim Streichen etwas falsch gemacht haben. Wie kann man nur so niedlich sein?
Ich nicke abwesend, ohne meinen Blick eine Sekunde von ihm zu nehmen. Jungkook scheint zufrieden damit und setzt den Farbroller wieder an der Wand an, um sie weiter zu streichen. Er hat sich nicht einmal beschwert, dass ich keinen Finger mehr krümme, er bittet auch nicht darum, dass ich ihm helfen soll.

Konzentriert arbeitet er weiter, während der Raum nur erfüllt von dem Geräusch des Rollers auf der Wand und unseren Atemzügen ist. Ich habe nicht das Bedürfnis, diese angenehme Stille irgendwie zu brechen, vielmehr geniesse ich sie. Ich bin nicht gezwungen, etwas zu sagen oder zu tun, ich kann einfach da stehen und Jungkook ansehen.

Dass mein Blick aber immerzu an ihm haftet, scheint ihn nervös zu machen und zudem auch verlegen. Er senkt den Kopf und seine Wangen zeigen einen leichten Rotton, während er langsam von der Wand ablässt und zurücktritt. Wieder bückt er sich zum Farbkessel und taucht den Roller hinein, ehe er ihn abstreicht.

Aber anstatt sich dann erneut der Wand zuzuwenden, dreht er sich zu mir um und sieht mir ins Gesicht.

"H-hör au-auf m-mi-mich s-so an-anzu-s-starren", bittet er mich, so leise, dass die Worte mich kaum erreichen, da sie nicht einmal mehr als Wispern durchgehen können. Ich beisse mir auf die Innenseite der Wange. "Aber du bist hübsch", antworte ich, "Ich liebe es, hübsche Sachen anzusehen."

Er wird noch eine Spur roter, als er schon ist und senkt seinen Kopf in Verlegenheit. Seine freien Finger spielen miteinander, ich kann erkennen, wie er den Daumennagel in seinen Zeigefinger drückt, immer wieder. Ausserdem wird er unruhig, er beginnt kleine Kreise auf dem Boden zu malen, mit seinem Fuss.

Ich laufe auf ihn zu, drücke seinen Kopf sachte hoch, sodass er mich aus seinen grossen, dunklen Augen anstarren muss. Überraschenderweise erkenne ich ein erwartungsvolles Glitzern, aber genauso auch Angst in ihnen.

"Wovor fürchtest du dich?", frage ich leise, "Sag mir, was dir durch den Kopf geht."

Abermals beisst er sich auf die Lippe und schüttelt dann den Kopf. Ich würde ihn gern davon abhalten, indem ich meine Finger auf seine Unterlippe lege, doch ich kenne seine Reaktion darauf nicht. Ich habe Angst, etwas Falsches zu tun und ihn damit zu verschrecken.

Wieso möchte er es mir nicht sagen? Einen kurzen Moment noch, blicke ich ihn weiterhin an, versuche in den dunkelbraunen Augen etwas zu finden, das mich bestärkt oder abhält. Doch ich finde nichts.
Als würde er sämtliche Emotionen in diesem Moment in seinem Inneren weg schliessen und mir damit keinen Einblick in seine Gefühle gewähren.

So, als würde er es nicht wollen, dass ich auch nur das kleinste bisschen darüber Bescheid weiss.

Von alleine lassen seine Zähne wieder von seiner Unterlippe ab, welche nun etwas gerötet und geschwollen ist. Man könnte meinen, jemand hat auf einen Pausenknopf gedrückt, denn absolut nichts geschieht. Keiner von uns spricht, keiner bewegt sich, wir sehen uns lediglich an. Ich wage nicht einmal, laut zu atmen.

Aber während er mich so unschuldig und ratlos anschaut, mit der blauen Farbe im Gesicht und den schwarzen Strähnen, die ihm in die Stirn fallen, weiss ich nicht, woher ich den Mut nehme, doch ich lege meine Hände an seine Wangen. Und ehe er mich weg stossen oder ich wieder allen Mut verlieren könnte, überkommt mich das Verlangen, zu erfahren, wie diese roten Lippen schmecken.

Also zögere ich nicht mehr lange, sondern beuge mich vor und küsse ihn stürmisch.

Stutter [Vkook]Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt