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Das Branden der Wellen am Strand hatte eine beruhigende Wirkung. Zumindest, wenn man den anderen glaubte. Nervös grub Louisan ihre Zehen tiefer in den feinen Sand, als hätte sie Adlerklauen statt Füßen.
Ihr kam es eher so vor, als schleudere jede Welle ihr ein Donnern entgegen, vor dem sie am liebsten weggelaufen wäre.
Oder geflogen.
Wie ein Adler.
Nicht eine einzige Brise wehte, die die Hitze hätte vertreiben können, die von einer viel zu großen Sonne auf die Erde gesandt wurde und die sich um sie legte wie ein Seil, das fester zu gezogen wurde.
Eine Schlinge. Die Schlinge zog sich zu.
Beunruhigt blickte Louisan über die Schulter, doch dort war nichts, nichts außer einer endlosen Weite...
Etwas bewegte sich in dem losen Boden unter ihren nackten Füßen. Wie eine Schlange tief in der Erde, die sich zum Schlafen zusammenrollte.
Wie von einem Blitzschlag gepackt sprang Louisan zur Seite, in Panik erkannte sie, dass der Strand ebenso zu wogen begann wie das Meer, das die Dünen, die mit einem Mal wie aus dem nichts und unüberwindlichen Mauern gleich hinter ihr aufgetaucht waren, sich aufbäumten wie Wellen bei Windstärke zehn.
Sie begann zu laufen, weg vom Meer, weg von dem Boden, der jetzt einbrach wie ein Trichter, doch ihre Beine schienen zu schrumpfen, zu winzigen Stummeln zu werden, und der Sand wurde zu einen Strom, der sich drehte, wie ein Strudel...
Louisan schrie, doch die raue Masse hatte ihre Beine erfasst, warf sie zu Boden und zwang sie auf seine Kreisbahn, immer schneller, immer schneller...
Die kantigen Körner drangen in ihren Mund, in ihre Nase, sie legten sich über ihre Augen und verstopften ihre Ohren, Sand, Sand, nichts als Sand, und...

Mit einem lauten Keuchen fuhr Louisan aus dem Schlaf hoch. Schwer atmend ließ sie sich zurück in ihr Kissen fallen.
Ein Traum. Der Traum. Schon wieder.
Erleichtert warf sie einen kurzen Blick auf die Leuchtanzeige ihres Weckers. 0:00. Mitternacht. Genau wie die letzten Nächte auch.
Louisan war nicht besonders abergläubisch - zu mindest ging sie davon aus - aber dieses nächtliche Schreckgespenst brachte sie doch ins Grübeln.
Seit ungefähr einer Woche störte dieser Alptraum ihren Schlaf, und mit jedem Mal schien er intensiver und realistischer zu werden. Sie schluckte. Wäre sie sich nicht ganz sicher gewesen, hätte sie schwören können, dass sie immer noch Sandkörner in ihrer Luftröhre kratzen spürte.
Seufzend hiefte sie sich aus ihrem nass geschwitzten Bett und tappte die paar Schritte zum Fenster. Schlafen würde sie fürs erste nicht mehr können.
Louisan sah gerne zum Sternenhimmel. Die kleinen Leuchtpunkte blinkten völlig unberührt von jeglichen Problemen und Krisen auf die Erde hinab. Irgendwie hatte das etwas Beruhigendes.
Egal, wie sehr ihre Synapsen sie Nachts quälten, die gigantischen Gaskugeln in unereichbarer Ferne glühten weiter. Kein Grund zu Sorge.
Aus Gewohnheit versuchte sie, Sternenbilder in dem Gewirr auszumachen, scheiterte aber, wie so oft, daran, dass eine Konstruktion für sie wie die andere aussah.
Es war doch sowieso nur eine sinnlose Ablenkung.

Lousian stützte ihren Kopf in die Hände und kniff die Augen zusammen. Warum nur träumte sie immer von diesem zusammenstürzenden Strand? Stöhnend fuhr sie sich mit einer Hand über die müden Augen. Wenn sie doch bloß wüsste...
Verdutzt hielt sie inne.
War das ein Mann dort unten, im Lichtkegel der Straßenlaterne?
Alamiert presste sie ihr Gesicht gegen das Glas, um mehr erkennen zu können. Tatsächlich, da war eine Gestalt, gehüllt in einen langen Mantel, der den Großteil ihrer Konturen verdeckte...
Für den Bruchteil einer Sekunde hätte Louisan schwören können, das zwei wache, helle Augen, genau in ihre Richtung sahen, ja, ihre eigenen geradezu durchbohrten, dann war die Gestalt verschwunden.
Wie vor den Kopf geschlagen prallte sie zurück.
Hatte sie das wirklich gesehen?
Ihr Herz, das sich gerade erst wieder beruhigt hatte, begann wie wild zu schlagen.
Menschen konnten sich nicht einfach in Luft auflösen, oder?
Bildete sie sich diese Dinge ein?
Verstört setzte sie sich wieder auf ihr Bett. Was hatte das zu bedeuten?

"I'm here again", säuselte eine Stimme neben ihrem Ohr. Grummelnd zog Louisan ihr Kissen über den Kopf. Es konnte doch unmöglich schon wieder Morgen sein! Sie fühlte sich immer noch wie erschlagen. Als sei sie bei Nacht einen Maraton gelaufen.
"A thousand miles away from you, a broken mess..."
Leise fluchend tatstete sie nach ihrem Wecker.
Das schrille Klingeln oder aufdringliche Piepsen anderer Modelle hatte sie einfach nicht ertragen, deswegen hatte sie sich vor einigen Monaten diesen hier angeschafft: Er lies sich mit anderen Internetfähigen Geräten verbinden und spielte in der Frühe Musik.
"...just scared of pieces of who I am..."
Was war das überhaupt für ein Lied? Sie erinnerte sich dunkel, den Wecker in die Playlist ihrer Mutter eingeloggt und auf "Zufällig" gedrückt zu haben....
Endlich! Mit einem dumpfem "Drop" brach der Weckton ab.
Stöhnend hob Louisan den Kopf. Trübes Morgenlicht sickerte durch den Spalt zwischem den Vorhängen. Warum war der offen?
Mit gerunzelter Stirn betrachtete sie ihr Fenster.
Irgendetwas war gestern Abend gewesen... um Mitternacht...
Nachdenklich rieb sie an dem Tatoo auf ihrem Handgelenk. Ein kleines Paar Engelsflügel und den Spruch
"Wen life gives you nothing, but reasons to cry
Find your inner wings and fly"
Der Traum. Das war es gewesen. Der Traum. Und dort draußen... wie eine Rakete sprang Louisan aus dem Bett und sprintete an die Fensterbank. Ihr Blick flog zu der Stelle unter der Straßenlaterne, an der sie den Mann gesehen hatte.
Sie war leer. Natürlich.

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