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Tschak!
Mit einem dumpfen Geräusch bohrte das Messer sich in die Wand.
Leider nur sehr weit von ihrem Ziel entfernt.
Erschöpft stützte Louisan ihre Hände auf ihre Oberschenkel auf. Vereinzelte Strähnen, die sich aus ihrem Zopf gelöst hatten, baumelten ihr störend auf die schweißnasse Stirn.
Sie trug eine kurze Sporthose und ein T-shirt. Wo die Elfen das aufgetrieben hatten, wusste sie nicht, und wenn sie ehrlich war, wollte sie das auch nicht unbedingt.
Ihre Entscheidung, auf die Bedingungen der Elfen einzugehen, beinhaltete leider auch, dass sie und Finn hierbleiben mussten - vorerst, wie Louisan stark hoffte.
Sie vermisste ihre Mutter.
Sie hatte versucht, mit Finn über ihr Heimweh zu sprechen, aber er hatte abgewiegelt.
"Dank am besten gar nicht dran", hatte er kurz angebunden gesagt.
Denk am besten gar nicht dran.
Toller Tip. Leider hatte das Gehirn die unschöne Angwohnheit, immer an genau das zu denken, was man vergessen wollte.
Das könnte auch der Grund sein, aus dem die Krankenhausruine sie weiterhin in ihren Träumen verfolgte.
Wenigstens hatte man ihren Wusch akzeptiert und sie nicht in eins dieser Gewänder gesteckt. Für Finn hatte sie denselben Vorteil ausgehandelt. Ihnen beiden war ein kalter Schauer den Rücken heruntergelaufen bei der Vorstellung, diese Elfenmäntel zu tragen. Ihre Gastgeber mochten such zwar momentan recht nett aufführen, aber das änderte nichts, und wirklich gar nichts daran, dass sie sie im Grunde schon zum zweiten Mal in ihrem Leben entführt hatten. Es war schon schlimm genug, das ihre eigenen Augen leuchteten als wäre sie eine von ihnen, da musste sie sich nicht auch noch so verkleiden.
Verbissen warf sie das nächste Messer.
Daneben. Wiedermal.
"Konzentrier dich auf dein Ziel", Rashja stand am Rand des Übungsfeldes, "Denk daran, wohin du treffen willst."
Noch so jemand, bei dem sie nicht wusste, was sie von ihm halten sollte. Manchmal sah sie immer noch seinen Bruder, wenn sie sich zu ihm umdrehte.
Finns Messer zischte neben ihr zielstrebig auf die Wand zu.
Genau ins Schwarze. Wiedermal.
Wie sich inzwischen gezeigt hatte, beschränkten sich ihre ach so tollen Fähigkeiten auf das unkontrollierte Zusammenschlagen von Leuten.
Rashja musterte seine wertvollen Schüler mit besorgtem Blick.
"Wir machen Schluss für heute", bestimmte er dann, "Morgen geht es um dieselbe Zeit weiter wie gestern."
Aufatmend ließ Louisan sich auf eine der Bänke sinken, die zwischen den Trainingsfeldern standen. Finn lief zu den Zielen, um die Messer einzusammeln.
Sie hatte immer noch lauter blaue Flecke von diversen Übungskämpfen. Sie begann, ernsthaft daran zu zweifeln, ob es wirklich eine gute Idee wäre, sie in irgendeinen Krieg zu schicken - nicht, dass sie das jemals gedacht hätte, aber trotzdem...
Rashja faselte immer etwas von "anderen Talenten", aber sie war sich nicht ganz sicher, was er damit meinte. Vermutlich gar nichts.
Seufzend rappelte sie sich auf und machte sich auf den Weg zu ihrer Unterkunft.

Es klopfte.
"Herein", Louisan hatte sich gerade lang auf ihrem Bett ausgestreckt, und ihre Glieder waren so schwer, dass sie sich ziemlich sicher war, dass sie nie mehe aufstehen würde können. Sie bewohnte immer noch die Zelle, aber seit die Wachen weg waren, fühlte es sich nicht mehr ganz so sehr nach Gefänfnis an.
Finn schob die Tür auf: "Rashja will uns sehen."
"Schon wieder?", Louisan pustete sich eine Strähne aus der Stirn, "Aber ich dachte wie haben frei?"
"Es scheint wichtig zu sein. Die Königin ist auch da."
Die Elfenkönigin. Die Frau mit dem verstecktem Lächeln und dem herbstrotem Gewand. Die Goldreifträgerin, die Finn bei ihrer Ankunft außer Gefecht gesetzt hatte.
Stirnrunzelnd setzte Louisan sich auf: "Was ist mit dem violetten Magier?"
"Schleicht hinter ihr herum, wie immer."
Dann musste es wirkluch wichtig sein.

Obwohl jeder ihrer Muskel  protestierten, quälte sie sich hoch. Warum hatte sie das Gefühl, dass sie sich seit das alles hier angefangen hatte nicht hatte ausruhen können?

Der Weg, auf dem der violette Magier sie führte, schlängelte sich wie ein Regenwurm durch das Unterholz des Waldes, der alle Elfensiedlungen und Einrichtungen zu säumen schien, und er war auch mindestens genauso schmal.
Louisan jedenfalls hätte ihn nicht als Pfad erkannt, wenn sie sich alleine herverirrt hätte.
Buschige Farnen streckten ihre fedrigen Blattfinger nach den Knöcheln der Wanderer aus und goldfarbene, kleine Rehe stoben mit erschrockenem Quicken aus dem Weg, als sie die Elfen nahen sahen, die sich mit ihren langen, schweren Mänteln - schwarz, rot und violett - unerbittlich ihren Weg durch das Pflanzenmeer pflügten.
Vor den Menschenkindern in Jeans hatte der Wald weitaus weniger Respekt, auch wenn deren Augen in dem Schummerlicht, das die dichten Baumkronen verursachten, genauso verräterisch leuchteten wie die ihrer Begleiter.
Louisan legte den Kopf in den Nacken. Was das wohl für Vögel waren, die dort oben sangen? Vielleicht gehörte einem von ihnen ja die Feder, die, sie in ihrer Straße gefunden hatte? Vorstellen könnte sie es sich. Der Wald schien mit genau der selben knisternden Elektrizität angereichert zu sein, die sie auch in der Feder gespürt ha...
Rums!
Ohne, dass sie es bemerkt hatte, waren die anderen stehen geblieben, nur sie war weiter gelaufen - direkt gegen Rashjas Rücken.
"Umpf", hastig taumelte sie rückwärts, wobei sie an seinem langen Mantel, der über den Boden schleifte, hängen blieb und stolperte.
Den missbilligenden Blick des Magiers spürte sie wie eine Brandnarbe auf der Haut, auch ohne hinzusehen.
Nur um Rashjas Mund schien ein Anflug von Belustigung zu zucken. Er ließ sich so etwas nicht oft anmerken. Doch das war es nicht, was Louisan stutzig machte: Warum sahen seine Augen heute so viel dunkler aus? Fast so, als würde ihn etwas bedrücken.
Verunsichert blickte sie sich um und erschrak, als sie dasselbe Phänomen im Gesicht der Königin entdeckte.
Nur der Magier schien unbekümmert.
Die Schatten unter den Bäumen schienen aufeinmal viel dunkler zu sein und eine mahnende Gänsehaut kroch an Louisans nackten Armen empor. Das konnte nichts gutes Bedeuten. Dieser Mann hatte sie und Finn noch nie leiden können.
Nervös warf sie ihrem Kameraden einen Blick zu, doch der hatte nichts bemerkt.
"Wir", die Königin warf den anderen Elfen einen unbehaglichen Blick zu, "Wir haben beschlossen, euch einer... einer Prüfung entgegenzustellen. Einige von uns...", ihr Blick wanderte zu dem Magier, "Erachten es als notwendig, dass wir uns eurer Fähigkeiten vergewissern müssen, bevor wir euch weiter in unsere Welt einführen. Und weil es...", sie seuftzte Unglücklich, "...weil es sich um sein Fachgebiet handelt, sahen wir uns gezwungen, einzuwilligen."
Louisans Herz begann zu klopfen, genauso angstvoll und laut wie vor ihrem ersten Übungskampf.
Sie würden sie jetzt schon gegen die Verräter kämpfen lassen. Oder einen Bären! Oder etwas ähnlich furchteinflößendes...
Auch Finn schien sich jetzt ein wenig unbehaglich zu fühlen.
Aber er trifft immerhin die Ziele mit dem Messer! Schoss es Louisan durch den Kopf, Er begreift die Techniken, die Rashja uns erklärt! Aber ich...
"Es ist nichts dramatisches", Rashja nahm den Faden auf, "Eure Aufgabe ist lediglich, von hier aus den Weg zur nächsten Lichtung zu finden. Der Richtigen Lichtung, wohlgemerkt. Wir werden dort auf euch warten."
Die Stirn über seiner Raubvogelnase kräuselte sich wiederwillig.
"Wir müssen aufbrechen", es war das erste Mal, dass sie den Magier sprechen hörte. Seine Stimme klang wie die einer alten Krähe.
Hänsel und Gretel.
Genau das war das hier. Sie würden sie und Finn alleine hier im Wald stehen lassen, mutterseelen allein.
Und niemand hatte daran gedacht, Brotkrumen auszustreuen...
Oder besser, Kieselsteine...
Brach jenseits des Blätterdachs nicht schon die Dämmerung herein?
Gab es hier Wölfe?
Werwölfe vielleicht?
Panik schwappte über ihr zusammen wie Eiswasser.
Ihr könnt uns doch nicht einfach hierlassen! Schrie sie innerlich.
Sie hoffte, dass auch ihre Augen diesen Satz formten, so dringlich, dass sie irgeneine der Elfen erbarmen würde.
Aber Erbarmen, das hatte Louisan gelernt, war nicht gerade eine Stärke dieser Wesen.
Die Elfen stellten sich auf, so wie sie es immer taten, wenn sie sich teleportieren.
Nicht einmal Fußspuren würden sie hinterlassen in diesem Dickicht.
Louisan fühlte sich, als müsste sie gleich in Tränen ausbrechen.
Rashja warf einen unbehaglichen zu seinen Begleitern.
Dann trat er unvermittelt vor und griff nach Louisans Hand, bevor sie wusste, was geschah.
"Traue dem, was du hörst", raunte er ihr eindringliche ins Ohr.
Dann war er verschwunden.
Genau wie die anderen, und Louisan starrte verwundert in den dunklen Wald.
Traue dem, was du hörst...
Oben, in den Baumkronen schien eine Eule zu schreien und ein aufkommender Wind brachte die Äste zum wispern.
Es schien Louisan beinahe so, als sängen sie ein grauenhaft vertrautes Kinderlied...
Hänsel und Gretel
Verliefen sich im Wald...

Haltet doch einfach eure Klappen! Dachte Louisan, seit doch einfach still.

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