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"Also", nachdenklich zerkrümelte Louisan das dünne Brot, das ihr die Elfen zu Essen gaben, zwischen ihren Fingern, "Was hast du ihm gesagt?"
"Nichts", erschöpft legte Finn seinen Kopf in den Nacken.
Die Wächter hatten ihr endlich erlaubt, mit ihm zu sprechen. Sie saßen in seiner Zelle, die Schüssel mit ihrem Frühstück zwischen sich.
"Gut. Ich auch nicht."
Seit mehreren Tagen waren sie schon hier. Ungefähr drei, bestimmt.
"Ich habe ihn gefragt, warum sie uns gefangen halten", fuhr Louisan fort.
"Und?", zum ersten Mal blitzte ernstes Interesse auf Finns Gesicht auf, dass noch blasser war, als normal.
Louisan rümpfte die Nase: "Er hat mich nur verwundert angesehen und gemeint, das täten sie gar nicht. Sie würden nur auf unsere Entscheidung warten."
Finn schnaubte herablassend.
Ihre Entscheidung.
Das Gespräch darüber hatte der mit dem Raubvogelgesicht auch mit Finn geführt.
"Wir sollen ihnen helfen, eine Gruppe von gefährlichen, bewaffneten Zauberern zu zerschlagen und danach ihr Volk in neues Leben führen, was auch immer das heißen mag", ätzte der, "Natürlich, nichts leichter als das."
Missmutig zog er sich die weiße Kapuze des bademantelähnlichen Gewandes, das er trug, ins Gesicht.
Wahrscheinlich vermisste er seinen Mantel.
Vorsichtig sprach Louisan die Worte aus, die ihr seit einiger Zeit im Kopf herumschwirrten: "Was wäre, wenn wir auf ihre Forderungen eingehen würden?"
"Bist du verrückt?", entgeistert starrte Finn sie an.
"Nein, überleg doch mal", führte sie hastig weiter aus, "wir sitzen hier fest. Wir kommen nicht raus. Und wenn wir Nein sagen, bleibt das vermutlich so. Wenn wir behaupten, wir seien einverstanden, geht es zumindest weiter. Wir können versuchen herauszufinden, was hier vor sich geht. Und wenn wir aussteigen wollen - naja, wir finden vermutlich einen Weg. Verweigern können wir dann ja immer noch. Sie können uns schließlich zu nichts zwingen, oder?"
"Sie zwingen uns doch schon die ganze Zeit!"
"Es ist nicht nur das", Louisan spürte, wie ihre Zunge schwer wurde, "Er hat gesagt, dass die anderen in Gefahr sind. Die in unserer Welt. Was wenn er recht hat?"
Meinetwegen ist ein Krankenhaus in die Luft geflogen, Finn! flehte sie in Gedanken, ich könnte es nicht ertragen, wenn noch mehr passiert!
Finn senkte den Blick: "Was gehen mich die anderen an?", knurrte er leise.
Aber Louisan wusste, dass er in diesem Augenblick ein Bild seiner Eltern vor sich sah. Und dass er genauso wenig Nein sagen würde wie sie.

"Vor einiger Zeit haben wir euch beiden Bruchstücke der Kraft geschenkt, die jeder von uns in sich trägt", der Mann im Raubvogelgesicht lief vor ihnen auf und ab, während er seine Erklärung ausführte. Der Ort, an dem sie standen, erinnerte an einen Trainingsplatz, es gab Wandständer die mit verschiedenen Waffen befüllt waren und ein Podest, dass an einen Boxring erinnerte. Außer dem Raubvogelmann war auch die Frau im herbstroten Gewand und der Elf in violett anwesend.
"Diese Kraft ist gewachsen. Dass ist eine der Eigenarten, die ihr Menschen mit euch bringt: Ihr werdet größer. Ihr Entwickelt euch. Und wird eine Kraft erst einmal in euren Organismus eingeführt, geschieht dasselbe auch mit ihr. Ihr seid begabt, aber ihr müsst lernen damit umzugehen. Deswegen", er blieb stehen und schien sie beinahe mit seinem blauen Blick zu durchbohren, "Deswegen sind wir hier. Bevor ihr uns von Nutzen sein könnt, braucht ihr Übung. Wir werden zunächst mit jeweils einem Übungskampf beginnen, um zu sehen, wie weit eure Fähigkeiten fortgeschritten sind", er winkte aus einer Ecke des Platzes einen düster wirkenden Elf herbei, den sich Louisan gut als bösen Waldschrat in einem Märchen vorstellen könnte, "Das Mädchen beginnt!"
Wie bitte? Perplex blieb sie stehen. Sie musste sich verhört haben, oder nicht?
"Worauf wartest du?", einer der Elfen hinter ihr gab ihr einen Stoß zwischen die Schulterblätter, sodass sie nach vorne stolperte.
Ihre Glieder fühlten sich seltsam leicht an. Und zittrig. Bestimmt musste dieses Ungeheuer von Kämpfer nur einmal pusten, damit sie davonflog.
Vielleicht reichte auch schon ihr eigener Herzschlag aus um sie von den Füßen zu reißen, so laut, wie das dumme Ding aufeinmal pochte.
Louisan erhaschte einen letzten Blick auf Finns besorgtes Gesicht, bevor ihre gummiweichen Beine sie auf das Podest trugen und sie mit schweißnassen Händen unter den Seilen hindurchkletterte.
Dann stand sie vor ihm.
Alleine.
Auf dem Präsentierteller.

Am Feldrand stieß jemand einen Pfiff aus. Das schrille Geräusch bohrte sich unbahrmherzig in ihr Trommelfell.
Fast im selben Augenblick preschte der Riese los. Louisan sah seine Faust auf sich zu fliegen.
Der Boxring, die Personen am Rand, all das verschwamm. Auch ihre eigenen Gedanken.
Hinterher fiel ihr auf, dass das Gefühl sehr dem Gefühl ähnelte, dass sie auch gehabt hatte, als sie und Finn aus der Gasse auf die Lichtung gezogen wurden, nur war es im Kampf nicht ganz so unwirklich.
Als würde sie mit einem Bein immer noch an Ort und Stelle stehen - was sie eigenglilich auch tat.
Louisan wusste nicht, wie lange sie auf dem Podest gewesen war. Sie hatte nicht gezählt, wie viele Schläge sie gelandet hatte und auch nicht die vielen Male, die sie unangenehm mit der Wange über den Holzboden gescheuert war.
Das erste, was sie wirklich wieder warnahm, war eine Hand, die sie vom Boden aufzog. Louisan fühlte sich leicht benommen und ein dumpfes Summen erfüllte ihre Ohren.
Über sich konnte sie verschwommen das Gesicht des Raubvogelmannes erkennen. Sie versuchte zu blinzeln, aber ihr Auge fühlte sich geschwollen an.
Neben ihr trugen zwei Elfen den Waldschrat davon.
War sie das gewesen? Hatte sie ihn zu Boden geschlagen?
Augenblicklich war die Angst wieder da, und mit ihr der Schmerz, den sie bis eben nicht gespürt hatte.
"Autsch", sie krümmte sich zusammen. War es normal, das Rippen sich anfühlten wie heißes Eisen das von innen gegen den Brustkorb gepresst wurde?
Der Raubvogelmann führte sie vom Podest herunter. Irgendjemand drückte ihr ein Tuch, das mit kaltem Wasser getränkt war, in die Hand. Dankbar presste sie es gegen ihre
linke Gesichtshälfte.
"Das war ein guter Kampf", die Frau mit dem Goldreif schien mehr als zufrieden.
Finn stand mit einem zweifelnnden Gesichtsausdruck hinter ihr.
Macht er sich Sorgen um mich oder um sich? Immerhin ist er der nächste.
"Die Verteidigung wäre vielleicht noch ausbaufähig", der Raubvogelmann musterte sie nachdenklich, "Aber ansonsten hat sie sich gut geschlagen."
Die Frau klatschte in die Hände, und Vorbereitungen für den nächsten Kampf wurden getroffen.
Stöhnend ließ Louisan sich auf eine Bank sinken, die wie durch ein Wunder direkt hinter ihr stand. Jeder Quadratzentimeter ihres Körpers tat weh.
Der Raubvogelmann setzte sich neben sie, die anderen entfernten sich. Finn kletterte in den Ring.
Ein neuer Gegner. Natürlich. Der Elf, gegen den Louisan gekämpft hatte würde dem Ring vermutlich für die nächste Zeit fern bleiben.
"Ich habe noch nie gesehen, das jemand Thars so gründlich von den Beinen holt. Du hast das gut gemacht, Menschenmädchen", seine Stimme klang beinahe freundlich.
"Ich heiße Louisan."
Der Kampf begann jetzt. Finns Gegner war eine weibliche, muskelbepackte Elfe. Sie trat nach ihm wie eine Karatekämpferin, aber er tauchte unter ihrem Bein durch.
"Was soll so ein Name denn bedeuten?"
"Einfach Ich"
"Der Name bedeutet ich?", Irriation zog wie eine Trübung durch die distanzierte Stimme des Elfen.
"Nein. Der Name bedeutet nicht allgemein Ich. Nur, wenn es um mich geht. Der Name bedeutet nur Mich. Mich und sonst niemanden."
Der Satz hatte in ihrem Kopf sinnvoller geklungen.
Der Elf antwortete nicht mehr.
Finn wich einem weiteren Schlag aus und tänzelte außer Reichweite. Dann warf er sich selbst zu Boden, machte eine Rolle und riss die Elfe von den Beinen.
Er konnte das unheimlich schnell. Wie ein Spiel sah es aus. Oder wie ein Tanz.
"Warum kann er das so gut?", entfuhr es ihr. Sie hatte nur eine ungefähre Vorstellung davon, wie ihr eigener Kampf auf die Umstehenden gewirkt haben musste. Blindes und brutales drauflosdreschen vermutlich.
"Er hat andere Talente als du", erwiderte der Elf.
"Das Talent, nicht getroffen zu werden?"
"Das nun wahrscheinlich nicht", ein feines, kaum sichtbares Lächeln zuckte über seinen Mundwinkel, "Aber er ist nahe dran. Ich bin übrigens Rashja."
Der Name weiche und klangvolle Name wollte nicht so recht zu seinem scharfen und hartem Gesicht passen.
Einer Eingebung nachzufolge hakte Louisan nach: "Und der Name bedeutet...?"
"Dass ich euer Wächter bin. Und Trainer. Dass heißt", Er blickte sie jetzt direkt an, " Wenn du deinen Platz akzeptierst."
Das sie akzeptieren würden, hatten sie und Finn bereits beschlossen. Auch wenn es einige Aspekte gab, dir ihr daran nicht so ganz gefielen...
"Unter einer Bedingung", rutschte es ihr heraus, "Ich werde unter gar keinen Umständen so einen Mantel tragen!"



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