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Louisan öffnete den Mund um zu schreien.
Er hatte sie gefunden. Es war vorbei. Er würde sie jetzt gefangen nehmen. Oder eliminieren, falls sie sich wehrte...
Ihre Gedanken waren auf einmal wie schockgefrostet.
Finn machte eine Bewegung, als schien er seine Chancen abzuschätzen diesem Mann bei zu kommen, aber dieser hob abwehrend die Hand.
"Bitte", sagte er, "Wir sollten keinen Lärm machen. Es ist doch sicher nicht in eurem Interesse, dieses Ungeziefer wieder anzulocken, nicht wahr?"
Irgendetwas an ihm war anders.
"Ungeziefer wie du?", Finns Augen funkelten kalt.
"Nein", wiedersprach der Mann, "Ich gehöre nicht zu denen."
"Du hast uns hinterherspioniert!"
"Ich habe versucht euch vor diesen Aasgeiern zu schützen. Vergeblich, wie es scheint."
"Du warst im Cafè", platzte es Louisan heraus, "Du warst im Cafè, und im Krankenhaus, und..."
"Nein, auch das ist nicht wahr", ein Schatten legte sich über das Raubvogelgesicht, "Ich war an keinem dieser Orte. Es ist mein Bruder, der Verräter, den du gesehen hast."
Louisan stutzte. Tatsächlich. Dieser Mann sah dem Angreifer aus dem Cafè zum Verwechseln ähnlich. Seine Augen blitzten genauso abweisend, aber etwas fehlte in ihnen. Sie riefen nicht dieselbe Furcht hervor, wie die des anderen.
Auch Finn wirkte unschlüssig.
"Ihr müsst jetzt mit mir kommen", fuhr der Elf fort.
"Nein", Finn griff nach Louisans Arm und zog sie mit nach hinten, "Ihr werdet uns nicht noch einmal bekommen!"
"Wenn ich euch nicht mitnehme, dann werden es die anderen tun. Und dann sind wir alle verloren. Ihr, eure Welt und auch das Nebelland.", erwiederte der Mann ernst.
Nebelland. Schon wieder dieses Wort.
"Lügner!", fauchte Finn, "Wir sind nur zwei ganz normale Jugendliche. Wie soll da eine Welt von uns abhängen? Wir gehen nicht mit! Komm keinen Schritt näher!"
"Seid ihr das wirklich?", der Elf war aufgestanden und trat trotz Finns Warnung dichter an sie heran, "Bist du nichts weiter als ein ganz normaler Junge? Ich glaube du weißt es besser."
"Das ist alles nur eure Schuld", murmelte Finn abwehrend und unterbrach den Blickkontakt.
Der Mann hatte einen wunden Punkt getroffen.
"Es ist alles nur eure Schuld. Ich gehe nicht nochmal mit", wiederholte er.
"Ich fürchte, dass ist längst nicht mehr eure Entscheidung", erwiederte der Elf, und alles verschwamm in einen grässlichem Strudel, die Hauswand, die Straße und Finns Griff um ihren Arm lösten sich auf.
Auch sie selbst. Für einen schrecklichen Moment lang schien sie nicht zu existieren.
Dann war der Augenblick vorbei. Sie konnte ihre Glieder wieder spüren und auch Finn war wieder da.
Die Straße und die Hauswand jedoch nicht.
Sie stand auf einer Lichtung, deren Ränder von Steinen gesäumt wurde. Nebel hing zwischen den Baumstämmen.
Die Umrisse einiger Personen zeichneten sich im trüben weiß ab. Der Himmel hing blassblau und unschuldig über ihnen, aber Louisan spürte, wie die morgendliche Kühle des Nebels in ihre Glieder kroch, und sie begann zu zittern.
Sie war schon einmal hiergewesen.
Finns Finger gruben sich tiefer in ihren Arm.
Louisan war dankbar für seinen Halt. Ohne ihn hätten möglicherweiße ihre Beine nachgegeben wie Gummi.

Wie gelähmt beobachtete sie, wie der Elf, der sie hergebracht hatte, vor trat. Er sah verändert aus: Zwar hatte sein Gesicht die Vogelartigen Konturen behalten, aber es hatte eine deutlich gesündere Färbung angenommen. Seine Augen strahlten heller als zu vor in der Gasse, und seine Ohren, die vormals unauffällig und rund gewesen waren, wießen jetzt eine eindeutig spitzere Form auf.
Er hatte sich getarnt, fieberte Louisans eingefrohrenes Gehirn, er hatte sich verkleidet, damit er nicht auffällt.
Aus dem Kreis, in dessen Mitte sie offenbar standen, lösten sich zwei weitere Personen.
Wie Geister wuchsen ihre hohen Siluetten aus dem weißlichen Dust.
Louisan blinzelte.
Die vordere Gestalt war eine Frau. Stolz trug sie ihren Kopf hoch, wie jemand, der sein Leben lang Anweisungen erteilt hatte. Ihre Augen leuchteten Grün und in ihrer Herbstroten Robe, die über das Gras schleifte, schimmerten goldene Fäden.
Ihre haselnußbraunen Haare waren zu einem Knoten geschlungen, bei dessen Anblick sich Louisan unwillkürlich die Frage aufdrängte, was für einen Zauber man brauchte, um aus einer Frisur so ein Kunstwerk zu machen. Ein goldener Reif auf dem Kopf der Fremden rundeten das Bild ab, als sie näher kam konnte Louisan die ernsten und gebieterischen Gesichtszüge erkennen. Nur die feinen Fältchen, die die Mundwinkel umspielten, wollten nicht zu dem majestätischen Auftreten passen. Sie schienen Spuren eines insgeheim schelmischen Wesens zu sein.

Die zweite Person, im Schatten der ersten wirkte kleiner, aber das konnte auch an ihrer Körperhaltung liegen. Es war ein Mann, und seine bernsteinfarbenen Augen blitzten misstrauisch.
Der Elf, der sie hergebracht hatte, neigte den Kopf.
"Ich habe sie gebracht, Majestät. Wie ich gesagt habe."
"Gut", es war die Frau, die sprach. Ihre Stimme klang herrisch, aber wie auch in ihrem Gesicht schwang ein warmer Ton darin mit.
Finns Mund klappte auf, als wolle er etwas erwiedern, ein Wiederspruch oder eine Aufforderung, sie zurückzubringen vielleicht, aber kein Ton kam über seine Lippen.
Er ist gerade genau in seinen Albtraum hinein gefallen, dachte Louisan, genau wie ich.
Die Frau wandte sich jetzt an sie.
"Ihr seht so anders aus", bemerkte sie fasziniert.
"Anders als was?", Louisans Mund fühlte sich trocken an, als sie sprach, und jede einzelne Silbe zitterte wie ein dünner Ast im Sturm.
"Als damals natürlich", die Frau lächelte, als wäre das selbstverständlich.
"Sie erinnert sich nicht mehr daran", schnappte Finn, als hätte er endlich genug Wut in sich gesammelt, um die Angst zu vertreiben, "als ihr sie das letzte Mal hergebracht habt, konnte die gerade laufen! Bringt uns sofort zurück nach Hause!"
"Sie sind nicht besonders begeistert von der Rolle, die ihnen zu kommt, Majestät", mischte sich der erste Elf ein.
"Wieso denn nicht?", verwundert wandte die Frau sich zu ihm um.
"Sie sind Menschen", giftete der kleinere Elf, "Ich habe ihnen gesagt, dass wir nichts von ihnen erwarten können. Sie sind schwach und klein, seht doch nur, wie sie zittern, heute wie damals."
"Aber sie tragen die Kraft in sich!", wiedersprach die Frau.
"Welche Kraft, verdammt nochmal!", Finn schien jetzt beinahe zu explodieren, seine blauen Augen sprühten Funken.
"Die Kraft die wir euch gegeben haben, welche sonst"
Louisan spürte, wie Finn zitterte. Das war die Bestätigung für alles, was sie befürchtet hatten.
"Ich habe nicht darum gebeten", flüsterte er leise. Gefährlich leise.
Sein gehetzter Blick wanderte über die Gesichter, die er schon so oft gezeichnet hatte, wie der eines Rehs das die Hunde eingekreist hatten.
Dann rannte er los.
Louisan spürte es, einen Augenblick, bevor er seinen Arm aus ihrem Griff wand und einen Satz auf die Umstehenden zu machte.
Er tauchte unter dem Arm des Mannes, der sie hergebracht hatte, durch und setzte ihn mit einem Schlag auf den Hals auser Gefecht. Dann sprintete er weiter, zu der Frau mit dem goldenen Reif. Sie begann zu fallen, bevor der erste auch nur den Boden berührt hatte.
Erst der kleinere Elf im violetten Gewand begann sich zu währen.
Er stieße Finn mit einem goldenen Stab zurück und schlug dann einmal mit der Hand nach seiner Stirn. Kleine, violette Wölkchen stießen zwischen seinen Fingern hervor wie Staub, wenn man auf ein altes Polster klopfte, als Finn die Augen verdrehte und mit einem gedrückten Stöhnen zusammen sackte.

Und Louisan stand in der Mitte der Lichtung und fror, die Kälte des Morgens, der, nach allem, was sie wusste, eigentlich ein Abend hätte sein müssen, kroch in ihre Glieder so wie die anderen Elfen, die der Nebel verborgen hatten auf die Lichtung strömten und sich wie ein aufgeregter Bienenschwarm um die am bodenliegenden scharrten.

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