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Ein grünes, funkelndes Augenpaar.
Das war es, was Louisan aus dem Spiegel entgegenblickte.
Ohne den Blick abzuwenden tastete sie nach dem Lichtschalter ihres Zimmers. Auf Knopfdruck versank die gesammte Inneneinrichtung in einem schattenhaftem Grau. Nur ihre Augen stachen hervor, unverändert grün.
Schaudernd knipste sie das Licht wieder an.
Sie haben irgendetwas mit mir gemacht, damals,
hallte Finns Stimme in ihrem Kopf nach.
Was war mit ihr? Finn hatte recht. Ihre Augen leuchteten, genau wie seine. Oder wie bei dem Mann im Cafè...
Mit angezogenen Knien ließ sie sich auf ihren Schreibtischstuhl sinken, die Oberschenkel an den Brustkorb gepresst, als könnte sie das dunkle Wirrwarr an Gefühlen so klein halten. Klein drücken. Aus sich heraus quetschen.
Druck von außen ließ den Druck von Innen kleiner erscheinen.
Ihre Augen waren so, wie die der Elfen, die Finn zeichnete. Was hatte das zu bedeuten?
An diesem Punkt brach jede ihrer Überlegungen ab wie eine Kassette mit Bandsalat.
Stöhnend rieb sie mit ihrem Handgelenk über die Stirn.
When life gives you nothing, but reasons to cry,
Find your inner wings and fly.
Nichts würde sie lieber tun. Aber statt Flügel suchte sie nach etwas anderem in ihrem Inneren.

Als sie den Mann, Elf, oder was auch immer es gewesen war, im Cafè zusammengeschlagen hatte, hatte sie das Gefühl gehabt, nicht wirklich selbst zu zu schlagen. Viel mehr hatte es sich angefühlt, als hätte etwas anderes in ihr die Kontrolle übernommen.
Finns Worte hatten eine gähnende Angst in ihr geweckt: Was, wenn diese Kreaturen damals irgendetwas in ihnen geplanzt hatten, etwas, dass nicht zu ihr gehörte? Etwas, das Finn dazu trieb, sich von der Gesellschaft abzuschotten, und sie... ja, wozu eigentlich?
Sie wühlte in ihrem Geist, aber alles, was sie fand, gehörte genauso zu ihr wie ihre Hand oder ihr Fuß.
Vor dem Fenster fiel langsam die Dämmerung herab. Und im Lichtkreis der Straßenlaterne huschte ein Schatten...

"Die Romantik zeichnet sich in besonderer Weiße durch den Eskapismus aus, eine Bewegung, die...", die monltone Stimme des Deutschlehrers schnarrte durch den Raum.
Louisans Blick war auf den leeren Stuhl links vor ihr gerichtet. Dorthin, wo normalerweiße Clara gesessen hatte.
Die Gestalten tauchten immer nur da auf, wo sie auch war. Konnte es sein, dass sie sie überhaupt erst ins Cafè gelockt hatte?
War sie selber Schuld an Claras Verschwinden?
Und an all den Toten, die bei dem Unglück im Krankenhaus umgekommen waren?
War sie eine Gefahr für die Menschen in ihrer Umgebung?
Sie senkte den Blick wieder zurück auf ihr Aufgabenblatt, auf das ihr Stift wirre Linien gezeichnet hatte.
Genauso, wie sie sich fühlte.
"... zentrale Motive waren der Traum, Gefühle, die Nacht, Natur..."
Von allen vieren passiert mir momentan zuviel,
dachte sie verbissen, während sie mit der Spitze ihres Bleistiftes Löcher in das Deckblatt des Blocks bohrte.
Unauffällig bleiben. Das hatten sie und Finn gestern beschlossen.
Vielleicht sollte sie sich tatsächlich in ihrem Zimmer vergraben, so wie er es tat.
Wenn man so etwas mit sich herumschleppte war es kein Wunder, dass man sich in Zeichnungen und Fantasy-Videospielen verlor.
Vielleicht sollte sie sich krank schreiben lassen. Ihre Mutter würde bestimmt eine Entschuldigung unterschreiben...
Sie könnte sich einfach zurückziehen, bis die Wogen sich irgendwann glätten würden...
Falls das überhaupt noch möglich war...
"Wie würden sie die Fensterszene interpretieren, Louisan?"
"Was?", sie schreckte hoch.
"Ihre Meinung zum Unterichtsgespräch bitte"
"Ähh", mit hochrotem Kopf versenkte Louisan ihre Nase in den raschelnden Seiten des Reclamheftes, "der Protagonist... ähhm... macht auf mich den Eindruck, geistig... geistig abwesend zu sein...", stotterte sie zusammen.
"Wie kommen sie zu dieser Schlussfolgerung?"
"Die Sätze sind... lang?", versuchte sie, "lang aber gleichzeitig auch ziemlich einfach gebaut?"
Der Lehrer öffnete den Mund, um etwas zu sagen, aber die Laute, die er sprach, erreichten Louisans Ohr nicht. Als hätte jemand etwas an der Zeit verzerrt, als würden Laute und Bilder nicht mehr aufeinanderpassen...
Graues Licht flutete den Raum und vermischte sich mit den Farben der der Umgebung zu trüben Strudeln, und in den Strudeln, langsam, ganz langsam, verfestigten sich schwarze Schatten, Schatte mit langen Mänteln, deren stechende, kalte Augen aus dem Durcheinander heraus leuchteten.
Louisan wollte schreien, doch sie konnte nicht, eine unsichtbare Hand hatte sich vor ihren Mund und ihre Nase geschoben, eine Hand, die sie gefangen hielt, die sie nachhinten zog, und...

"Louisan?", eine Stimme, dicht neben ihr riss den Schleier aus Farbstrudeln auf und ließ Sonnenlicht zurück in die Welt sickern.
"Louisan!"
Die Stimme wurde harscher.
"Was?", sie hob den Kopf ind blinzelte verwundert in die Runde. Sie befand sich immer noch im Klassenzimmer. Die anderen Mädchen in der Ecke kicherten. Hatte sie etwa geschlafen?
"Louisan!", wiederholte die Stimme von vorhin. Erst jetzt realisierte sie, dass es ihr Lehrer war.
"Louisan, geht es ihnen gut?"
Warum klang er so besorgt?
Unnauffällig fuhr sie mit der Hand durch ihr Gesicht, und erstarrte, als sie Feuchtigkeit unter ihren Fingern spürte. Waren dass etwa... Tränen?
Kalte Finger griffen nach ihr. Hatte sie im Schlaf geweint? Vielleicht sogar geschrien? Hier vor allen Leuten?
"Louisan?"
Endlich gelang es ihr, ihre Starre abzuschütteln.
"Ich... äh...", verunsichert ließ sie ihren Blick zum Fenster schweifen. Nichts.
"Ich glaube..."
"Fühlen sie sich nicht wohl?"
"Was? Ähh... Ja, genau!", dankbar griff Louisan nach dem Strohalm, der ihr hingehalten wurde, "Mir geht es in den letzten Tagen nicht so gut..." Keine Lüge. Es ging ihr wirklich miserabel.
"Vielleicht ist es besser, wenn sie nach draußen gehen?"
"Ja", Louisan bemühte sich, ein bemittleidenswertes Gesicht zu ziehen.
"Sollte sie nicht vielleicht jemand begleiten?", rief der Lehrer hinter ihr her, als sie schon beinahe zur Tür heraus war.
Bloß nicht. Ein Gespräch über ihren seltsamen Anfall mit einer irritierten Klassenkameradin war das letzte, was sie jetzt brauchte.
"Nein danke", antwortete sie deshalb hastig und zog die Tür zu.
Vielleicht hatte Finn Recht. Vielleicht war da tatsächlich eine Mauer zwischen ihr und allen anderen.

Der Schulhof war leer. Wie ausgetorben. Natürlich, alle, die ihn normalerweiße während der Pausen bevölkerten saßen in stickigen Klassenzimmern fest. Zögernd stand Louisan vor einer der schweren Glastüren, den rechten Arm ausgestreckt, bereit sie aufzustoßen und ins Freie zu treten. Sie hatte vor gehabt ein wenig an die frische Luft zu gehen, aber jetzt...
Das Kribbeln auf ihrer Haut hatte sich wieder eingestellt. Irgendwie ahnte sie, dass irgendwo dort draußen wiefer ein Mann mit langem Mantel lauern würde...
Nervös kaute sie auf ihrer Unterlippe. Er vermutete sie in der Schule - oder etwa nicht?
Es gab auch Ausgänge, die normalerweiße nicht benutzt wurden.
Das Fenster in der Hausmeisterloge zum Beispiel...
Es war an der Zeit, zu sehen, wie gut diese Kerle Verstecken spielten.

Mit hochgeschlagenem Kragen wanderte Louisan die Kieswege, die sich wie Schmuckketten um den See wanden. Ihr Fahrrad hatte sie in der Schule gelassen, um keine Aufmerksamkeit zu erregen.
Der Park war belebt, selbst um diese Zeit. Ein paar Rentner zogen träge vorbei, auf dem Spielplatz hockte eine Mutter mit ihrem Kind im Sand. Hinter den Bäumen blitzte sie Fassade des Cafès auf. Es war dunkel, und die Fenster wirkten blind ohne die Sillouetten der Besucher an den Tischen.
Ein Teil von ihr hatte gehofft, Michelle hier zu treffen - die fröhliche Kellnerin hätte ihr zur Zeit eher düsteres Gefühl vielleicht ein wenig aufbrechen können, aber natürlich wusste sie es besser.
Michelles kleine Schwester wurde immer noch vermisst. Ganz zu schweigen von Frank...
Louisans Magen krampfte sich erneut zusammen, als sie daran dachte, dass der freundliche Cafèbesitzer sich vermutlich im River Hospital aufgehalten hatte...
Natürlich war Michelle nicht hier. Wahrscheinlich ging es ihr sogar noch miserabler als Louisan.
Sie warf einen schnellen Blick auf ihre Uhr. Ja, es wäre langsam an der Zeit, sich auf den Heimweg zu machen. Ohne Fahrrad. Das konnte sie morgen holen.
Als Louisan sich umwandte, um wieder auf den Park ausgang zuzustiefeln, schwebte unbemerkt eine kleine Feder aus ihrer Jackentasche heraus.
Verwirrt blieb Louisan stehen. Warum hatte sie mit einem Mal das Gefühl, etwas vergessen zu haben? Ärgerlich schüttelte sie den Kopf. Wahrscheinlich war es einfach nur ungewohnt, ohne den Fahrradlenker in der Hand nach Hause zu gehen...
Nein, ihre Schultasche! Das würde es sein! Mit Bedauern realisierte sie, dass sie sie nicht holen konnte - nicht jetzt. Aber um die Schulbücher war es nicht all zu Schade.

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