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Monoton klapperte das Fahrrad neben ihr, als sie es neben sich herschob, den Blick starr nach vorne gerichtet.
Es war als hätte sich eine Wattewand zwischen sie und die Außenwelt geschoben. Vielleicht war es auch ein Gespinnst aus den Gedanken, die seit dem in ihrem leerem Kopf wiederhallten.
Als sie wieder aufgewacht war, auf dem Boden des Cafès, hatte sich eine junge Frau in der Jacke eines Sanitäters über sie gebeugt.
Sie hatte gesagt, alles sei gut. Louisan brauche sich keine Sorgen zu machen. Sie und andere hatten sie in eine Decke gewickelt und ihr etwas zu trinken in die Hand gedrückt.
Sie hätte einen Schock, hatten sie gesagt.
Der Himmel war wieder blau. Keine Wolke verriet das Inferno, dass vor ungefähr einer Stunde über die Stadt nieder gegangen war. Das Chaos auf den Straßen sprach eine deutlichere Sprache. Louisan umkurvte einen eingestürzten Baum. Ein Pulk aus Autos, die nicht weiterkonnten, stand davor.
Clara war verschwunden. Als das Licht angegangen war, war sie nicht mehr im Cafè gewesen. Niemand hatte sie gehen sehen. Und sie war nicht die einzige. Fast jeder der Gäste vermisste mindestens eine Person, und die Gesuchten waren nirgends auffindbar.
Während sie das Gefühl hatte, ihr Schädel würde von innen mit Eiskristallen überzogen, stapfte sie durch eine knöcheltiefe Pfütze. Das Wasser spritzte ihr bis zu den Knien, aber es fühlte sich so an, als wären es die Beine einer anderen Person. Nicht ihre, jedenfalls.
Den Mann, den sie... den sie zusammengeschlagen hatte, hatte man in einen Krankenwagen verladen.
Und wenn du ihn umgebracht hast?, flüsterte eine gemeine Stimme, was wenn dann?
Louisan brachte nicht die Kraft auf, der Stimme zu wiedersprechen. Stattdessen umklammerte sie ihren Lenker fester, so fest, das ihre Fingerknöchel sich weiß färbten.
Michelle hatte in Tränen aufgelöst im zweiten Krankenwagen gehockt, in dem Frank versorgt wurde. Sie hatte kein Wort mehr gesprochen.
Die Einfahrt zu Louisans Straße kam in Sicht. Mit jedem Schritt schien sie schwerer zu zu werden, als würde jemand Blei in sie hinein gießen. Sie wollte sich nur noch in ihr Bett legen so lange nicht mehr herauskommen, bis sich dieser ganze Tag als einziger Alptraum herausstellte.
Heiße Tränen füllten ihre Augenwinkel. Es musste einfach ein Alptraum sein. Sie bog um die Ecke. Da drüben, dort war der Laternenpfahl. Sie hätte schreien können, als sie ihn sah. Nicht, weil dort jemand stand, sondern einfach, weil alles damit angefangen hatte, mit dem Fremden um Mitternacht...
Unter der Laterne blieb sie stehen. Die Tränen liefen ihr jetzt ungehindert über das Gesicht. Wie hatte das passieren können? Und warum passierte es ihr? Es gab doch Millionen andere Orte, an denen das Gewitter hätte niedergehen können. Millionen anderer Mädchen, die im Cafè einen Fremden hätten totschlagen können, in diesen seltsamen Minuten der Finsternis...
Etwas streifte ihren Arm. Mit einem Schrei sprang Louisan zu Seite, riss dabei ihr Fahrrad um, prallte gegen den Laternenpfahl und rutschte mit dem Rücken auf das harte Gestänge.
Über ihr stand Finn. Seine rechte Hand hielt er von sich gestreckt, als habe er sie gerade in eine Toilette getaucht, und auf seinem Gesicht spiegelte sich eine Mischung aus Abscheu und Entsetzen.
"Was ist das?", presste er drohend hervor.
"Wa... was?", stammelte Louisan. Sie hätte Angst haben sollen. Das wusste sie. Immerhin, gestern noch hatte sie ihn in Verdacht gehabt, selber der Beobachter zu sein.
Aber seine Augen waren anders als die des Mannes aus dem Cafè. Nicht wie Eis, sondern einfach sehr hervorstechend.
Und irgendetwas an seinem Gesicht... an dem Ausdruck... es spiegelte genau die Angst, genau die Aufgewühltheit, die Louisan seit Tagen in sich selbst spürte.
"Das auf deinem Arm", wiederholte er langsam, "wo kommt das her?"
Louisan schluckte. Sie trug immernoch die blutbespritzten Sachen von vorhin. Unter großer Überwindung wandte sie den Kopf zu ihrer rechten Seite - und keuchte überrascht auf. Das schwere Rot hatte sich in eine klare, bernsteinfarbene Kruste verwandelt.
"Es war rot!", rief sie, "ich schwöre, vorhin war es noch rot! Ganz rot!"
Aber als sie wieder aufblickte, war Finn schon verschwunden. Außerhalb ihrer Sichtfeldes fiel krachend eine Tür ins Schloss.

"Es ist alles gut, Louie", ihre Mutter drückte ihr eine Teetasse in die Hand, "das war nur ein Gewitter. Ein sehr, sehr starkes, aber das ist vorbei gezogen", vorsichtig nahm sie neben ihrer Tochter platz, "und der Mann ist wahrscheinlich durchgedreht. Panische Angst vor Gewitter, so etwas soll es geben. Wer weiß, vielleicht ist er sogar psychisch gestört? Hat erst Frank angegriffen, und dann dich. Du hast dich nur gewehert. Und das hast du sehr gut gemacht! Ich bin stolz auf dich!"
"Hmm", ohne richtig auf ihre Mutter einzugehen, nippte Louisan an dem heißen Getränk. Sie war ganz und gar nicht stolz auf sich. Sie hatte auf einen am Boden liegenden, wehrlosen Menschen eingetreten.
Aber sie hatte jetzt nicht die Nerven, dass zu diskutieren.
"Mama?", begann sie stattdessen vorsichtig, "Ich glaube, ich habe im Cafè noch andere Menschen gesehen. Erst, als es geblitzt hat, und dann später, aber...", sie zögerte, "als ich dann wieder hingeschaut habe, war alles leer. Wie vom Erdboden verschluckt."
Entgegen ihrer Erwartung lächelte ihre Mutter milde.
"Ach Schatz", seufzte sie, "du hast schon immer eine blühende Phantasie gehabt. Das liegt an dem Schock, wahrscheinlich", sanft strich sie ihr über den Kopf, "Ich kann mich noch genau daran erinnern, wie du und Finn"  sie runzelte mit leichter Missbilligung die Stirn, wie immer, wenn sein Name fiel, "Damals vollkommen aufgelöst nach Hause gekommen seid..."
Beinahe hätte Louisan die heiße Flüssigkeit ausgesprustet.
"Was?", hustete sie, nachdem sie es gerade noch geschafft hatte, den Inhalt ihres Mundes viel zu schnell herunter zuschlucken.
"Weißt du das nicht mehr?", ihre Mutter legte den Kopf schief, "ihr seid immer zusammen unterwegs gewesen als ihr klein wart."
Tatsächlich, dunkel erinnerte Louisan sich: Der Junge, der heute von so einer bedrohlichen Aura umgeben wurde, war einmal ein fröhlicher Spielkamerad gewesen...
"Und was meintest du vorhin?", hakte Louisan nach.
"Was soll ich gemeint haben?"
"Na, dass wir einmal ganz aufgelöst nach Hause gekommen sind..."
"Ach", ihre Mutter schüttelte den Kopf, "da war nichts. Ihr hattet hinter den Häusern gespielt. Damals war da noch eine Wiese und keine Wohnhäuser. Finn hat die ganze Zeit irgendetwas von Elfen gefaselt, zusammenhangloses Zeug. Du hast den ganzen Abend kein Wort mehr gesprochen, du warst wie versteinert... das ist aber schon lange her. Du warst gerade zwei Jahre alt geworden. Ich nehme an, ihr hattet euch irgendeine Geistergeschichte zusammen gereimt, die euch Angst gemacht hat", sie stand auf, "Ich bin in der Küche, wenn du mich suchst, ja?"
"Jaja, ist in Ordnung", wie betäubt starrte Louisan in ihre Tasse.
Sie hatte das sichere Gefühl, dass die Information, die sie eben erhalten hatte, wichtig war.
Finn. Finn hing irgendwie in der Sache drin. Er tauchte jedesmal auf, wenn irgendetwas seltsames geschehen war.
Sie versuchte, sich seinen Gesichtsausdruck von vorhin wieder vor Augen zu rufen. Konnte es sein, dass er mehr wusste als sie? Oder wusste er genauso wenig?
Was auch immer hier vorging, sie würde es nur erfahren, wenn sie suchte. Und da drüben, im Haus gegenüber, würde sie anfangen.

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