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Eine kleine Koje im Fels.
Ein kleiner Raum in einer Höhle.
Dort hatten sie sie hingebracht, weg von der Lichtung, auf der sie wie eine Salzsäule beobachtet hatte, wie man Finn wegbrachte.
Wohin?
Sie wusste es nicht.
Louisan zog ihre Knie näher an sich heran. Ihr Tatoo schien zu brennen wie damals, als es gestochen wurde.
Find you inner wings and fly...
Noch nie hatte hatte sie das so gerne gewollt.
Wegfliegen. Weg aus diesem Kabuff, dass sich viel zu sehr nach einer Zelle anfühlte.
Weg von der Angst.
Angst vor den Elfen.
Angst vor sich selber.
Die Kraft, die wir euch gegeben haben natürlich!
Diese Worte hallten in ihrem Kopf wieder, sie untermalten die Bilder, die sich dort in Endlosschleife zu wiederholen schienen: Finn. Finn, wie er nach vorne geschossen war und einen Elfen nach dem anderen ausgeschaltet hatte. So unglaublich schnell. Viel zu schnell. Zumindest für einen Menschen.
Sie kniff die Augen zu, wünschte sich, sie würden aufhören zu leuchten.
Was war mit ihr? Was hatten sie ihr gegeben, damals?
Bilder von blutigem Linoleum zogen an der weißen Wand gegenüber vorbei.
Ich habe nicht darum gebeten.
Nein, das hatte sie wirklich nicht.
Warum war sie dann still geblieben? Warum war sie stehen geblieben wie eine Schaufensterpuppe?
Wenn sie ehrlich war, war sie froh darüber. Wenn sie an das Cafè dachte, wurde ihr übel.
Louisan schielte zur Tür. Sie war nicht abgeschlossen. Aber draußen saß eine Wache...
Die Klinke wurde heruntergedrückt und die Tür schwang auf.
Der Elf mit dem Raubvogelgesicht trat ein.
Erschrocken richtete Louisan sich im Sitzen auf, doch der Besucher bedeutete ihr mit einer beschwichtigenden Handbewegung, ruhig zu bleiben, mehr noch: Er ließ sich selber auf einem Vorsprung an der Felswand gegenüber nieder.
"Ich glaube", begann er, "Dass wir alle einen ziemlich schlechten Start hatten."
"Wo ist Finn?"
"Der Junge? Nebenan", der Elf zog eine Augenbraue hoch, "Ich muss sagen, auf eine solche Reaktion waren wir nicht vorbereitet."
"Achja? Worauf denn dann?", Louisan bemerkte mit Befriedigung, dass ihre Stimme nicht halb so sehr zitterte wie sie befürchtet hatte.
"Das ihr euren Auftrag annehmt", der Stimme des Elfen war keine Regung zu entnehmen.
"Welcher Auftrag?"
"Den Krieg zu gewinnen und das Elfenvolk in neues Leben zu führen."
"Bitte was?!", Louisan blieb die Spucke weg. Welcher Krieg? Und was sollte sie führen?
"Den Krieg gewinnen und das Elfenvolk in neues Leben führen", wiederholte er, als wäre das das selbstverständlichste der Welt.
Louisan versuchte ihren Atem zu beruhigen.
"Also, ich weiß nicht, was ihr für Vorstellungen habt", begann sie langsam, "Aber Finn und ich  sind keine Soldaten. Und was den Teil mit dem neuen Leben angeht - ich weiß nicht einmal was das bedeuten soll."
"Heißt das, du verweigerst deinen Platz?", zum ersten Mal sah sie ein Zucken in seinem scharf geschnittenen Gesicht.
Louisan wollte etwas sagen, hielt aber inne. Tat sie das?
"Was bedeutet das?", fragte sie stattdessen.
"Mein Bruder hat es getan. Und jeder der anderen Verräter auch", antwortete der Elf kurz angebunden.
Sein Bruder....
"Du meinst den, der..."
"Den, der tot ist, ja."
Louisans Mund wurde trocken. Also doch. Sie hatte ihn getötet. Sie hatte einen Mann getötet, sie war eine Mörderin, eine..
"Als sein Tarnungszauber verblasste und er sich immer noch in eurer Menschenwelt befand, aktivierte sich der Schutzmechanismus und sprengte ihn in die Luft. Ihn und das Gebäude."
Für eine Sekunde atmete Louisan auf. Aber nur für eine. Dann begann ihr Gehirn nämlich zu begreifen, dass sie den Mann ins Krankenhaus gebracht hatte. Den Mann.
Den Tod.
Den Tod für alle Menschen im River Hospital.
"Sein Tarnungszauber?", würgte sie hervor.
"Den, den auch ich benutzt habe", der Elf nickte unbeteiligt, "Er sorgt dafür, dass ihr uns für eure Artgenossen haltet. Du hast sicher bemerkt, dass das Blut meines Bruders nach einiger Zeit gelblich wurde - das ist seine natürliche Farbe."
Sein Bruder...
Bildete sie sich das nur ein, oder lag da eine Andeutung von Trauer in seinen durchdringenden Augen?
"Und diese Verräter?"
"Abtrünnige", jetzt blitzte wahre Verachtung auf seinem Vogelgesicht auf, "Elfen, die diesen Namen nicht mehr verdienen, weil sie sich vom Nebelland abgewendet haben. Sie rebellieren gegen die alte Ordnung. Sie wollen sich eine eigene Welt schaffen - dort, wo deinesgleichen Leben."
Louisan stockte der Atem: "Sie bedrohen uns?"
"Sie bedrohen alle. Erzähl mir nicht, du hättest ihre Angriffe nicht bemerkt. Das Gewitter, die Entführungen im Cafè? Ich habe versucht, euch da heraus zu halten, aber ich habe versagt. Offensichtlich."
Clara. Die Entführungen.
"Wo sind sie? Die Entführten, meine ich?", ihre Stimme klang heißer wie schon lange nicht mehr.
Der Elf schüttelte den Kopf: " Das wissen wir nicht."
Louisan wusste nicht, ob er die Enttäuschung von ihrem Gesicht las, aber er stand auf und machte Anstalt, den Raum zu verlassen.
Im Türrahmen blieb er noch einmal stehen.
"Du wirst dich Entscheiden müssen", sagte er, ohne sich komplett zu ihr umzudrehen, "Die alte Ordnung duldet keine Ausrutscher."
Und bevor Louisan weiter fragen konnte, war er verschwunden.

Sand quoll zwischen ihren gekrümmten Zehen hervor und der salzige Wind spielte mit Louisans Haaren.
Ruhig rauschten die Wellen an den Strand.
Nein. Nicht ruhig.
Louisan atmete aus. Ihr Traum. Der Traum.
"Was willst du noch?", flüsterte sie über das unendliche Meer, ,"Was willst du noch? Der Strudel hat sich gedreht. Und er hat uns zurück hier her gesogen. Weg", und während sie sprach, spürte sie, wie die Worte die Angst schmolzen, die sie jede Nacht begleitet hatte bis in diese Felsenzelle, und als der Boden unter ihren Füßen begann, sich zu winden, stieß sie sich ab und flog.
Ein befreihendes Lachen quoll aus ihrer Kehle und Hoffnung spross aus ihrem Herzen, so wie die weißen Flügel aus ihren Schultern.
Sonne kitzelte ihre Haut und der Horizont funkelte ihr freundlich zu.
Aber der Strand unter ihr schien zu brodeln.
Warum fürchtest du dich noch?, wisperten die Flügel, wir sind bei dir, wir tragen dich fort.
Aber Louisan kannte diesen Traum zu gut.
Qualm stieg aus dem Schlund, der sie sonst verschluckte, auf, Qualm wie Hände, die nach ihr griffen, um ihre übliche Beute doch noch mit hinab zuzuiehen.
Kalter Schweiß brach auf Louisans Stirn aus. Hektisch versuchte sie, höher zu flattern, aber die majestätischen Schwingen schienen aus Blei zu sein.
Der Qualm stieg schnell, schneller als sie. Bald war er überall, überall um sie herum, er machte ihre Augen blind und brachte ihre Lunge zum Husten.
Flog sie noch oder fiel sie schon?
Aus dem dicken Grauschwarz schälten, sich Gestalten.
Frank, der lachend an der Theke seines Cafès lehnte, auf das er so stolz gewesen war.
Eine Frau, die sich vor der Ruine eines Krankenhauses weinend an einen Teddybären klammerte, der viel zu klein für ihre Verzweiflung war.
Bilder. Lachende Fotos vor roten Grabkerzen.
Blutiges Linoleum.

Schreiend wachte Louisan auf. Es war noch nicht vorbei.

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