Das leise Klackern der Fahrradspeichen verstummte, als Louisan ihr Gefährt gegenüber ihres Hauses zu stehen brachte. Sie warf einen kurzen Blick auf das Fenster, von dem sie wusste, dass es ihres war. Ja, man konnte es von hier sehen.
Ihre Beobachtung hatte sie den ganzen Tag in der Schule nicht losgelassen, und auch jetzt fand sie keine Ruhe.
Eine Windböhe fegte durch die nebelkalte Straße und trieb alte Brötchentüten und Plastikbecher vor sich her. And der nächsten Straßenecke schob eine Frau einen Kinderwagen. Nichts deutete darauf hin, das hier irgendetwas wiedernatürliches geschehen sein könnte. So etwas wiedernatürliches wie Menschen, die sich in Luft auflösten. Und dennoch..."Du liest zu viel", erklärte sie sich selbst, "du liest zu viel... das wird es sein... du liest und liest und dein Gehirn fängt an zu glauben, du würdest selber in einem Buch leben. Achte gar nicht weiter darauf"
Doch obwohl sie versuchte, überzeugt zu klingen, nagten leise Zweifel an ihren eigenen Argumenten.
Sie las viel, das war wahr. So viel, dass sie sich vermutlich in der Bibliothek zurechtfinden könnte ohne auch nur ein Auge auf zu tun, wie sie manchmal scherzhaft sagte. Aber das taten andere doch auch. Sahen sie deswegen auch Gestalten in langen Mänteln, und träumten sie deswegen auch jede Nacht, sie würde von einem Loch aus Sand verschluckt? Wohl eher nicht. Oder?
Nervös kreisten ihre Finger um ihr Tatoo.
Reiß dich zusammen! , befahl sie sich selber.
Mit einem schnellen Kopfschütteln versuchte sie, die Gedanken zu vertreiben. Sie war aus einem bestimmten Grund hergekommen.
Die Schule war überraschender Weise eine Stunde eher zu Ende gewesen. Die Englischlehrerin war einfach nicht zum Unterricht erschienen.
Louisans Mutter würde frühestens in einer Stunde zu Hause sein, da sie sich also ohnehin micht zu beeilen brauchte, hatte sie beschlossen, dem Platz unter der Straßenlaterne einen Besuch abzustatten und nachzusehen, ob irgendetwas auf den nächtlichen Beobachter hinwies.
Suchend lies sie ihren Blick über die roten Pflastersteine gleiten, ohne zu wissen, was sie überhaupt zu finden hoffte...Plötzlich stellten sich die Härchen auf ihrem Arm auf, und ein unangenehmes Kribbeln machte sich in ihrem Nacken breit. Sie kannte dieses Gefühl, das Gefühl von fremden Augen, die sich unbeobachtet fühlten und deshalb...
Wütend blinzelnd hob Louisan ihren Kopf. Sie mochte es nicht, angestarrt zu werden.
"Was?", fauchte sie in die Richtung, in der sie den fremden Blick vermutete.
Zu ihrer Überraschung sah sie einen Jungen im Hauseingang des Hauses vor sich stehen, die Hand an der Türklinke.
Ein Junge mit blasser Haut und ungepflegtem schwarzem Haar, dass ihm etwas zu lang ins Gesicht fiel.
Seine Kleidung war dunkel, etwas zu groß und wirkte beinahe schäbig, er war recht klein, nicht größer als sie selbst,
obwohl Louisan wusste, dass er gute Zwei Jahre älter war als sie.
Finn.
Er hatte schon immer in diesem Haus gegenüber gewohnt, aber sie konnte sich nicht erinnern, wann sie ihn das letzte Mal gesehen hatte, ja, sie musste sogar zweimal hinsehen, bis sie ihn überhaupt erkannte.
Finn genoss in der Nachbarschaft den zweifelhaften Ruf eines Faulenzers, eines Mannes, der sein Leben schon in den Sand setzte, bevor es richtig begann."Er tut gar nichts", erzählten die Erwachsenen sich, "er versucht es ja nicht mal. Er hockt nur in seinem Zimmer und liegt seinen Eltern auf der Tasche. Wenn das mein Sohn wäre..."
An dieser Stelle brach die Tirade der Älteren meistens ab. Anscheinend reichte ihre Vorstellungskraft nicht aus, um sich tatsächlich in diese grauenvolle Situation hineinzuversetzen.
Finns Augen leuchteten auf eine Art und Weise zwischen seinen Haarsträhnen hindurch, die nicht ganz zu deuten war. Er verzog seinen rechten Mundwinkel zu einer kleinen Grimasse, die sowohl ein Lächeln als auch ein Ausdruck der unverholenen Abneigung sein konnte, dann huschte er zurück in das Zwielicht des Hausflurs, aus dem er wahrscheinlich gerade erst herausgetreten war. Sein schwarzer Mantel flatterte hinter ihm her wie das zerschlissene Segel eines Geisterschiffes.
Ein langer schwarzer Mantel...
Louisan stockte der Atem. Konnte Finn der Mann sein, dan sie gestern gesehen hatte?
Nein, versuchte eine Stimme in ihrem Gehirn den fiebrigen Gedankenfluss zu unterbrechen, Finn ist klein, der Beobachter war groß.
Aber Louisan hörte nicht auf sie. Finns Augen, Finns Augen! Konnte das der scharfe Blick gewesen sein, der sie in der Nacht getroffen hatte?
Bei Nacht spielten einem die Augen manchmal einen Streich. Gut möglich, dass eine optische Täuschung dem Nachbarn zu unverhoffter Größe verholfen hatte.
Es könnte passen.
Aber während sie ihr Fahrrad auf den Hof des eigenen Hauses schob, keimte eine weitere, unangenehme Frage in ihrem Inneren auf:
Warum stand Finn, der Nichtsnutz Finn, bei Nacht auf der Straße und beobachtete ihr Fenster?
Mit einem mulmigen Gefühl drehte sie den Kopf zurück dorthin, wohin er verschwinden war.
Ja, warum sollte er so etwas tun?
Die Windböe von vorhin kam zurück, dieses Mal aus der anderen Richtung. In ihrem Gefolge flatterte diesesmal eine Feder, die sich in den Speichen ihres Rads verfing.
Einer plötzlichen Eingebung folgend zupfte Louisan sie heraus und steckte sie ein.Ein Eichelhäher?
Nein, die Streifen waren weiß, nicht braun, wie sie sein sollten.
Ein Eisvogel?
Unmöglich.
Auf dem Fingerknöchel ihres Zeigefingers kauend brütete Louisan über einem Artenbestimmungsbuch. Neben ihre Ellenbogen blinkte die Leuchtanzeige ihres Weckers, warnend, dass Mitternacht näher rückte. Sie hatte beschlossen, heute einfach erst nach dieser gefahrenvollen Stunde einzuschlafen. Mittlerweile bekam sie Angst, sie könnte sich im Verlauf dieses Traumes im Schlaf strangulieren....
Wenn sie so genau darüber nachdachte, war sie letzte Donnerstag nicht weit davon entfernt gewesen.
Grübelnd drehte sie die Feder zwischen ihren Fingern.
Was erst wie ein unschuldiger Gegenstand ausgesehen hatte, erwies sich nun als ein weiteres Rätsel.
Die Feder lies sich keiner heimischen Vogelart zuordnen.
Seufzend legte sie ihren Kopf auf den Tisch. Wenn es ihr gelang, bis Mitternacht aufzubleiben, würde sie dann wieder einen Blick auf die Gestalt erhaschen können? Würde sie sie als Finn erkennen?
Müde schielte sie zu ihren Vorhängen empor. Ihr Wecker zeigte 23:40 Uhr.
Konnte sie dem Alptraum tatsächlich ausweichen, in dem sie einfach nicht schlief? Oder würde er sie einfach später heimsuchen? Ein Traum war normalerweiße auch nicht Zeitgebunden.
Vielleicht solltest du einen Therapeuten aufsuchen, riet eine Stimme in ihrem Kopf.
Louisan schüttelte sich wiederwillig. Sie war nicht verrückt!
Sie hatte einfach nur...
Die roten, eckigen Zahlen auf dem Display wurden größer. Bald würde es Mitternacht sein. Bald...
Die Feder konnte von einem Haustier stammen. Einem speziellen Kanarienvogel, vielleicht.
Oder, phantasierte ihr von Müdigkeit umsponnenes Gehirn, es stammt von einem Fabelwesen.
Einem Phönix, oder Greifen. Vielleicht war der Mann, den sie gesehen hatte, ein Tierfänger, er fing fantastische Wesen, um sie an den Meistbietenden zu vefkaufen. Vielleicht hatte Finn den ganzen Keller voller Käfige stehen, und verdiente damit sein Geld, während alle dachten...Rums! Ihr Kopf war von ihrem Arm gerutscht und auf die Tischplatte geknallt. Erschrocken fuhr Louisan hoch. Sie durfte jetzt nicht einschlafen! Nicht um,
Ihr Blick flog zu ihrem Wecker, nicht um... um 23:59 Uhr.
Mit einem leichten Schaudern beobachtete sie, wie die Ziffern der Anzeige für einen Sekundenbruchteil verschwanden und gleich darauf wieder auftauchten.
Es war so weit.
Wie auf Kommando schien die Temperatur in ihrem Zimmer um einige Grad zu fallen, die Wände rückten näher zusammen.
Louisan blickte sich nervös um. Das waren nur die Schatten der Nacht, die ineinander flossen, versuchte sie sich zu überzeugen, das war nur Einbildung.
Begann der Boden etwa, sich zu drehen?
Entsetzt zog Louisan ihre Füße nach oben. Sie war eingeschlafen. Ganz sicher, sie hatte sich nicht wachhalten können.
Aber warum war sie dann noch hier, und nicht am Strand? Verstört blickte sie zum Fenster. Ein schmaler Spalt Mondlicht sickerte herein...
Ohne darüber nachzudenken, was sie tat, kletterte sie auf ihren Schreibtisch und von da aus aufs Fensterbrett. Die Nacht war klar, keine einzige Wolke verdeckte den Blick auf die Sterne.
Die Straße war in das gelbe Licht der Straßenlaterne getaucht, aber sie war leer.
Gegenüber, in einem Fenster auf der Höhe von ihrem, bewegte sich, wie vom Wind gestreift, ein Vorhang.
Und Louisan war sich diesemal ganz sicher, dass sie dahinter leuchtend blaue Augen blitzen sah.
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Elfentraum
Fantasy"Das war ein Fehler", der Magier zu ihrer Rechten blickte immer noch auf die Stelle, auf der bis vor zwei Minuten noch zwei verängstigte Kinder gezittert hatten, "sie sind klein und schwach. Sie sind Menschen. Was können wir von ihnen erwarten?" "Da...