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Das Geräusch von tropfendem Wasser war es, das Louisan aufweckte.
Es gewann mehr und mehr an Deutlichkeit und durchbrach das diffuse Wirbeln ihrer Gedanken.
Hatte eines der Kinder den Wasserhahn in der Küche angelassen?
Müde schob sie ihre Augenlider auf.
Verschwommen blinzelte sie in einen Abgrund, der sich direkt unter ihr auftat.
Ein Abgrund?
Erschrocken versuchte Louisan, ihre Hände hinter ihrem Rücken hervor zu reißen, um sich festzuhalten, fand sie aber fest an eine Eisenstange gekettet.
Was war passiert?
Allmählich kehrten die Erinnerungen zurück wie Puzzelteile, die sich langsam zusammen setzten.
Der Überfall. Das Feuer.
Timothy.
Wie eine Flutwelle strömte die Erkenntnis darüber, was passiert war, durch ihre Gehirnwindungen und wusch die letzte Benommenheit heraus.
Heiße Tränen schossen ihr in die Augen. Die Kinder. Wan. Es war wohl kaum anzunehmen, dass die Verräter hatten Gnade walten lassen.
Ein frustrierter Schrei entsprang ihrem Mund, wurde aber von einem festen Knebel erstickt.
Wütend versuchte Louisan sich aufzubäumen, sie wand sich, dass die Ketten klirrten, aber sie gaben keinen Millimeter nach.
Das ist vermutlich auch besser so, meldete sich ihr Verstand zurück, Sie sind vermutlich das einzige, was dich von einem tödlichen Sturz trennt.
Und gleich darauf setzte er hinzu: Die Kinder hätten nicht sterben müssen, wenn du nicht da gewesen wärst.
Dieser Gedanke brachte sie zum schweigen.
Er hallte in ihrem Kopf nach, der sich mit einem Mal leer anfühlte. So leer.
War sie verantwortlich für Timothys Tod?
Vor ihrem inneren Auge wachte das Bild wieder auf, das Bild von diesem Jungen, diesem so tapferen, kleinen Jungen, der nie wieder würde auf seine Schwester aufpassen können.
Auf Nala! Was war mit dem Mädchen geschehen? Hatte es überlebt? Aber wie hätte sie aus dem zusammenbrechenden Haus entkommen sollen? Ohne ihren Bruder?
Wahrscheinlich nicht.
War das alles ihre Schuld?
Ja.
Ja, verdammt, das war es.
Die Tränen kehrten zurück, und dieses Mal liefen sie ungehindert an ihren Wangen entlang und tropften in die Dunkelheit.
Was hatte sie nur getan?

Seit geraumer Zeit baumelte Louisan nun schon von der Decke. Wie lange genau wusste sie nicht, aber es war definitiv lang genug gewesen, um ihre Glieder einschlafen zu lassen und sie mit einem unangenehmem Kribbeln zu überziehen.
Grimmig blickte sie unter sich, da sie ja kaum eine andere Wahl hatte. Ihre Augen hatten sich an die Lichtverhältnisse gewöhnt, sodass sie jetzt verschwommen einen Raum unter sich erkennen konnte. Er schien mit Tischen ausgestattet zu sein, und sie sah ein Meer aus stecknadelgroßen Köpfen bewegen. Sie hätte nie geglaubt, dass es so viele Verräter geben könnte.
Sie sann gerade darüber nach, ob sie, falls sie hinunterspucken könnte, wohl jemanden treffen würde, als sich ihre Nackenhärrchen aufstellten. Jemand näherte sich.
"Gefällt dir die Aussicht, Menschenkind?", eine Stimme, die vor Louisans innerem Auge sofort Assoziationen mit einer kalten Stahlklinge hervorrief, näherte sich von der Seite.
"Ich habe persönlich dafür gesorgt, dass du unseren bestem Logenplatz erhältst."
Louisan versuchte zur Seite zu schielen, um ihr Gegenüber sehen zu können, erhaschte aber nur einen Blick auf zwei blassgrüne Augen, die sie von der Seite anleuchteten.
"Du fragst dich sicher, wer ich bin", die Person schien sich zu amüsieren.
Nein, ich frage mich, wie es klingen würde deine Nase zu brechen, dachte Louisan ärgerlich, aber sie war immer noch geknebelt.
"Ich nenne mich 'Washington'. Ungewöhnlich, nicht war? Es ist natürlich nicht der Name, den der Nebel mir gegeben hat, oh nein", er schnaltzte verächtlich mit der Zunge, "Oh nein, er hätte mir nie einen Namen wie diesen gegeben. Aber ich habe nicht vor mir von einer derartigen ominösen Macht mein Leben diktieren zu lassen. Eine Eigenschaft, die wir beide offensichtlich teilen. Sonst hätte das Schicksal dich nicht in unsere bescheidende Unterkunft verschlagen. Ich bin beeindruckt. Wirklich, das bin ich. Wer hätte gedacht, dass die Auserwählte der Prophezeiung das Zeug zu einer waschechten Sonnensuchenden hat? So nennen wir uns selber, musst du wissen", er lachte leise, "Aber ich habe euch Menschen immer bewundert. Ich habe immer so sein wollen wie ihr, weißt du? Es ist wirklich ein Jammer, dass das Schicksal euch genau dorthin verschlagen hat, wo wir gerne hin möchten. Die Erde", seine Stimme bekam einen träumerischen Unterton, "Der Ort, an dem wir frei sein können..."
Irgendetwas an seinen Worten gefiehl Louisan nicht.
Es ist ein Jammer, dass das Schicksal euch genau dahin verschlagen hat, wo wir gerne hinwollen.
Waren die Menschen den Verrätern im Weg?
Wurden deswegen Einzelne verschleppt?
So wie Clara?
"Dennoch seit ihr sehr nützlich", setzte der Elf versonnen hinzu, "Ihr seit Kinder eures Planeten. Ihr tragt ihn in euch. Eure Welt mag keine Fremden, nicht, wenn sie eimfach so Löcher in seine Hülle reißen wie wir es tun, nicht, wenn die Löcher so groß sind. Er antwortet auf Gewalt mit Gewalt. Ein gewitterartiges Aufeinandertreffen der Kräfte. Aber sie ist zahm, wenn man einen Schlüssel bei sich trägt, etwas, das sie erkennt. Ein Wesen aus ihrem Herzen. Das ist der Grund, aus dem wir Menschen hergebracht haben. Ihre Existenz in unserer Basis erlaubt uns große Vorstöße in eure Heimat, ohne ärgerliche Nebeneffekte wie größere Naturkatastrophen."
Der Sturm. Natürlich.
Die Verräter waren in so großen Gruppen in Louisans Welt vorgedrungen, dass sie eine Abwehrreaktion hervorgerufen hatten.
Bedeutete das, dass die Entführten hier in dieser Basis waren?
Wütend warf Louisan sich gegen ihre Fesseln.
"Oh, du hörst mir also doch zu", Washington lachte, "Ich hatte schon befürchtet, du würdest schlafen. Wie dem auch sei, ich muss jetzt gehen. Das Nebelland ist bedeutend schutzloser, solange ich dich in meinen Ketten weiß."
Ich muss hier raus.
Verzweifelt verbog Louisan ihre Finger, um die Fesseln um ihr Hangelenk zu betasten.
Langsam stieg die Frage in ihr auf, ob man sie überhaupt irgendwann losbinden würde.
Sie würde doch essen müssen, oder?
Würde man sie hier verhungern lassen?
Und was war mit Toilettengängen?
Die Vorstellung war mehr als unangenehm.

Nacht hielt Einzug in der Basis der Verräter. Louisan erkannte es nicht an der aufkommenden Dunkelheit, sondern an der Stille. Sie konnte spüren, wie der Großteil der Elfen verstummte und mit ruhigem Atem zur Ruhe kam. Der Herzschlag des ganzen Gebäudes schien sich zu verlangsamen.
Es war ein seltsames Gefühl. Sie hatte doch zuvor nie gespürt, was um sie herum vorging, oder? Nicht so detailliert.
Aber sie war auch zuvor noch nie in einer Situation gewesen, in der sie selbst so macht- und hilflos gewesen war und in der ihr nichts anderes übrig geblieben war als zu lauschen.
Trotz ihrer unbequemen Position und den besorgniserregenden Gedanken, die in ihrem Kopf herumschwirrten hatte es etwas Beruhigendes, den Elfen in den Stockwerken unter ihr beim Schlafen zu zuhören.
Vielleicht würde sie auch die Augen schließen. Ganz kurz nur. Möglich, dass sie etwas Erholung fand...
Etwas regte sich im Haus.
Louisan riss ihre schläfrigen Augen auf. Ein Wispern, dass nicht zu ihren Wächtern gehörte, huschte durch die Gänge, leise, vorsichtig. Ein vetrautes Wispern.
Ganz leise trug die Luft dumpfe Laute, wie von einem zu Boden fallenden Körper zu ihr unter die Decke. Da unten war etwas im Gange.
Irgendwer rief Alarm aus. Direkt neben ihrem Kopf leuchtete ein rotes Blinklicht auf, begleitet von einer ohrenbetäubenden Sirene.
Mit einem Schlag war die Ruhe vorbei.
Stahltüren wurden aufgerissen und Waffen prallten aufeinander. Louisan glaubte, die Kampfschreie der Nebellandsoldaten zu erkennen. Rashja und seine Männer.
Im ersten Moment war sie fast erleichtert. Man würde sie hier herunter holen.
Aber ihr Fluchtveruch war wohl endgültg gescheitert. Vor Elfen konnte man wohl einfach nicht wegrennen.

"Was um alles in der Welt hast du dir nur dabei gedacht?", Finn lief wütend vor ihr auf und ab. Louisan hatte ihn noch nie so aufgebracht gesehen.
"Was ich gedacht habe? Das ich nicht irgendwelche Spinner mit meinem Leben spielen lasse!"
"Du meinst die Spinner, mit denen du mich alleinegelassen hast?"
"Alleine gelassen?", Louisan stand auf und die Decke, die ihr einer der Sanitäter über die Schulter gelegt hatte glitt zu Boden, "Als ich dich das letzte Mal gesehen habe, hast du nicht besonders alleine gewirkt, du Elf!"
"Was?", Finn blieb für einen Augenblick die Spucke weg, "Was soll das? Wie kannst du mich so nennen!"
"Tu nicht so als ob du von nichts wüsstest! Ich habe dich gesehen, mit deiner Elfenfreundin!"
"Muss ich unfreundlich zu jedem sein, nur weil du sie nicht magst?"
"Da du ja anscheinend zu Menschen grundsätzlich unfreundlich bist finde ich es bemerkenswert, dass du eine Elfe so zuvorkommend behandelst. Ich meine ja nur."
"Wenigstens bringe ich keine Menschen durch unverantwortungsbewusstes Handeln in Gefahr!"
Louisan klappte ihren Mund auf, schloss ihn aber sofort wieder und biss sich auf die Unterlippe. Er hatte einen wunden Punkt erwischt. Verdammt.
Irgendwo in ihrem Unterbewusstsein flackerten Flammen auf, obwohl sie versuchte, das Bild zu verdrängen.
Finn fuhr sich mit der Hand über das Gesicht. Er sah mit einem Mal wieder sehr erschöpft aus. Mehr wie der Finn, den sie kannte.
"Wir hatten das doch besprochen, oder nicht?", fragte er, "Wir hatten beschlossen, dass wir es hier versuchen, damit genau so etwas nicht passiert. Das war deine Idee, weißt du noch?"
"Das war bevor diese Wahnsinnigen mich an einen Trottel verheiraten wollten und eine Frau exekutiert haben nur weil sie mit den falschen Leuten befreundet war", zischte Louisan, "Und wir haben auch gesagt, dass wir gehen sobald es uns übel vorkommt."
"Aber zusammen! Louisan, wir hatten abgemacht, dass wir zusammen weggehen würden!"
"Mach dir doch nichts vor! Als ob du mitgekommen wärst!"
Finn wurde still und blickte zur Seite.
"Doch", erwiderte er dann leise, "Ich glaube das wäre ich."
"Aber..."
"Nein, lass mich ausreden", er sah sie jetzt direkt an, "Ich weiß nicht, was du gesehen hast, aber lass mich dir eins sagen: Sie ist ein nettes Mädchen. Es ist angenehm mit ihr zu reden und sie kann einen wunderbar aufmuntern. Aber glaubst du wirklich, dass ich so leben möchte? Ich gehöre nicht hier her, Louisan, aber nach Hause gehöre ich auch nicht. Es gibt nur eine einzige Person, die das versteht und das..."
"... dass bin ich?"
"Ja, genau", er sah zu Boden, "Also wenn du verdammt nochmal gehst, egal ob in eine New Yorker Gosse oder das Hauptquartier von sonst wem, dann nimm mich gefälligst mit!"
Louisan sah ihn verblüfft an. Ein warmes Gefühl der Erleichterung sprudelte in ihr hoch, und sie spürte, wie ihre Lippen sich unwillkürlich zu einem Lächeln verzogen. Er war immer noch bei ihr, immer noch auf ihrer Seite. Erst jetzt spürte sie, wie sehr der Gedanke, ihn nach allem, was sie durchgemacht hatten, als Freund zu verlieren belastet hatte.
"Keine Trennungen mehr?", fragte sie und hielt ihm ihre Hand hin.
"Keine Trennungen mehr!", er drückte sie fest. Seine blauen Augen blitzten.
"Wir können jetzt nicht einfach gehen, oder?", seuftzte Louisan.
"Wenn wir das tun bringen wir nur noch mehr Zivilisten in Gefahr", meinte Finn, "Solange die Verräter dort draußen herum streunen, ist niemand sicher, wenn wir in der Nähe sind."
"Also", begann Louisan, und ein Plan nahm in ihrem Kopf gestalt an, "Müssen wir erst damit fertig werden, bevor wir uns um alles weitere kümmern können."

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